Knapp ein Jahr vor seinem Tod schrieb Martin Luther im März 1545 das Vorwort zum ersten Band einer Gesamtausgabe seiner lateinischen Schriften. Dieser Text trägt starke autobiographische Züge, beleuchtet er doch rückblickend aus Luthers eigener Sicht die wichtigsten Ereignisse der von ihm ausgelösten Reformation und befasst sich dabei mit dem zentralen Punkt seiner Glaubensüberzeugung: einer neuen Sicht der “Gerechtigkeit Gottes”. Luther schreibt:
“Ich konnte den gerechten, die Sünder strafenden Gott nicht lieben, im Gegenteil, ich hasste ihn sogar. Wenn ich auch als Mönch untadelig lebte, fühlte ich mich vor Gott doch als Sünder, und mein Gewissen quälte mich sehr. Ich wagte nicht zu hoffen, dass ich Gott durch meine Genugtuung versöhnen könnte. Und wenn ich mich auch nicht in Lästerung gegen Gott empörte, so murrte ich doch heimlich gewaltig gegen ihn.
Da erbarmte sich Gott meiner und ich fing an, die Gerechtigkeit Gottes als eine solche zu verstehen, durch welche der Gerechte als durch Gottes Gabe lebt, nämlich aus dem Glauben. Ich fing an zu begreifen, dass dies der Sinn sei: Durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott durch den Glauben rechtfertigt.
Da fühlte ich mich wie ganz und gar neu geboren, und durch offene Tore trat ich in das Paradies selbst ein. Da zeigte mir die ganze Schrift ein völlig anderes Gesicht und ich fand auch bei anderen Worten das gleiche, zum Beispiel: ‘Werk Gottes’ bedeutet das Werk, welches Gott in uns wirkt; ‘Kraft Gottes’ – durch welche er uns kräftig macht.
Mit so großem Hass, wie ich zuvor das Wort ‘Gerechtigkeit’ gehasst hatte, mit so großer Liebe hielt ich jetzt dies Wort als das allerliebste hoch.”