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Von – 1. April 2004

Der Marathon-Lauf als Passionsweg

Franz kann sich noch ganz genau an den Tag erinnern, an dem er sich seine ersten Laufschuhe kaufte. Vor fünf Jahren schlug der damals 39-Jährige wegen seiner Familie einen hoch dotierten Job in London aus. Aber mit den Laufschuhen kam wieder Bewegung in sein Leben. Zehn Kilometer joggt er täglich bei Hitze, Regen oder Schnee. Und zwei Mal im Jahr nimmt er an Marathonläufen teil.

„Durch das Laufen fühle ich mich wie neu geboren“, beschreibt der Banker sein Glücksgefühl. Kein Einzelfall, weiß der Sport­ psychologe und Theologe Andreas Marlovits, der für das Kölner Institut Rheingold eine tiefenpsychologische Studie über Freizeit-Marathonläufer erstellt hat. „Alle Befragten begannen mit dem Laufen, als sie bedingt durch Job, Familie oder Gesundheit ihre erste echte Identitätskrise durchlitten“, so Marlovits. „Marathon“ heißt dann oft das Zauberwort, bei allen Läufen gibt es mehr Interessentinnen und Interessenten als teilnehmen können. Warum diese Schinderei für 42,195 Kilometer Laufen am Stück?

Marlovits hat festgestellt, dass viele Menschen den Marathon als „einen freiwilligen Passionsweg erleben, der sie in vier Stufen durch das psychische Erleben der völligen Selbstaufgabe zu einer Art Wiedergeburt führt.“ Die ersten zwanzig Kilometer schaffen die meisten ganz locker. In der zweiten Phase beginnen dann die Leiden, die in der dritten Phase zum absoluten Tiefpunkt führen: „Die Läufer geben sich scheinbar selbst auf und überlassen sich der Situation, einer geheimnisvollen Macht“, so Marlovits. Wer durch dieses Jammertal geht, wird schließlich belohnt: Das Leiden wird zu einem unbeschreiblichen Glückgefühl. „Der Läufer hat während des Laufs an sich gelitten und sich selbst wieder von diesem Leiden befreit – er ist Opfer und Erlöser zugleich“, analysiert Marlovits.

Zu beobachten ist: Während andere Quellen der Sinnstiftung wie zum Beispiel Religion an Kraft verlieren, steigt die Erwartung an den Körper, dem Leben Sinn zu geben. Diese Erwartung findet nach dem Waldlauf oder Tennismatch nur im Wohlbefinden, im Gefühl, eins mit dem eigenen Körper zu sein, Erfüllung. So gesehen ist Laufen und Sport sinnvoll. Keine Hilfe vom Sport sollte man sich jedoch bei der Suche nach dem Lebenssinn oder der Bewältigung von Lebenskrisen nicht versprechen. Da ist das Laufen nämlich nur ein Weglaufen vor den eigenen Problemen. Und die Erfahrung lehrt: Ungelöste Probleme holen einen immer wieder ein.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 1. April 2004 in der Rubrik Lebenslagen, erschienen in der Ausgabe .

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Ralf Bräuer ist Leiter der Redaktion von "Evangelisches Frankfurt".