„Ich möchte, wir hätten möglichst viele deutsche Lieder, die das Volk in der Messe singt. Aber noch fehlt es an Dichtern“, notiert Martin Luther Ende 1523. Die Reformation war in vollem Gange, und allein die Tatsache, dass in den protestantischen Gebieten die Gottesdienste nun in deutscher Sprache gefeiert werden, führte zu einem großen Bedarf an entsprechend neuem Liedgut. Zudem sollten sich auch die zentralen Erkenntnisse des reformatorischen Glaubens in den Liedtexten widerspiegeln. So entstand im 16. Jahrhundert eine wahre Flut neuer deutscher Kirchenlieder, die ab 1524 in zahlreichen Ausgaben erschienen. Der Reformator selbst – musikalisch nicht unbegabt – hat eine beachtliche Zahl von Kirchenliedern in Text und Melodie beigesteuert.
Zwei Musikwissenschaftler in Kassel, Hans-Otto Korth und Helmut Lauterwasser, haben es sich nun zur Aufgabe gemacht, eine kritische Ausgabe sämtlicher Melodien deutscher Kirchenlieder von 1481 bis 1800 zu erarbeiten. Ein Mammutprojekt. „Es dürfte sich um 30000 bis 40000 Lieder handeln“, so Lauterwasser. Das liegt nicht zuletzt an den zahllosen Varianten einzelner Texte und Melodien. „Je mehr Varianten es gibt, desto beliebter war das Lied“, so die Faustregel. Auch an kuriosen Entdeckungen mangelt es nicht, etwa Kirchenliedern mit über hundert Strophen. Dagegen ist die Behauptung, Luther hätte vielfach Trinklieder seiner Zeit einfach mit einem neuen Text unterlegt, offensichtlich falsch. Nur in einem Fall – und das ausgerechnet bei dem bis heute beliebten Weihnachtslied „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ – ist nachweisbar, dass der Reformator sich von einer weltlichen Textvorlage inspirieren ließ. Und das war keineswegs ein Trinklied.