Weihnachten gilt ja als Fest der Familie – und was für die einen pure Freude ist, weil sie sich im Kreise ihrer Lieben versammeln und sich an glänzenden Kinderaugen erfreuen, ist für die anderen eine Last, nämlich für die, die „keine Familie haben“, wie so oft gesagt wird: die Singles und Kinderlosen, diejenigen, die sich mit ihrer Verwandtschaft zerstritten haben, die „Überlebenden“, deren nahe
Angehörige bereits verstorben sind.
Aber wie sinnvoll ist eigentlich diese eingeschliffene Aufteilung in „Familienmenschen“ und „Singles“? Ist Familie wirklich „da, wo Kinder sind“, wie eine mittlerweile gängige Behauptung lautet? Kritische Nachfragen an das hier zu Lande vorherrschende Familienbild stellt der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber. „Familie haben alle“ heißt sein Essay, der als kleines Büchlein im Wichern-Verlag erschienen ist (7 Euro).
Darin ruft Huber die eigentlich banale Tatsache in Erinnerung, dass jeder Mensch eine Familie hat, denn niemand hat sich selbst geboren. Zwar haben nicht alle Menschen Kinder, aber alle haben eine Mutter und einen Vater. Menschen leben immer und jederzeit in Generationen zusammen. Dies ernst zu nehmen, hat weit reichende Folgen: dafür, wie die Betreuung und Erziehung von Kindern und die Sorge für alte und kranke Menschen organisiert wird, wie Geldströme verteilt und wie Arbeit und Belastungen geteilt werden. Es hat Auswirkungen auf das Verhältnis von Frauen und Männern, auf die Arbeitswelt, auf die Gesundheits- und Bildungspolitik und nicht zuletzt auf das persönliche Selbstverständnis.
In diesem Büchlein gibt Huber eine evangelische Standortbestimmung, die den Abschied von überholten und altmodischen Familienbildern begrüßt, aber gleichzeitig darauf hinweist, dass Individualismus nicht das Gegenmodell sein kann: „Wir bejahen die Vielfalt von Lebensformen, aber wir treten dafür ein, dass in diesen Lebensformen ein Lebensstil zur Geltung kommt, der Liebe und Freiheit, Verlässlichkeit und Verantwortung zur Grundlage hat.“
Antje Schrupp