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Aktuell

Von – 1. Mai 2008

Der verharmloste Skandal

Fast jeder zweite Suizid in Deutschland wird von einem Menschen begangen, der 60 Jahre oder älter ist. Depression im Alter wird oft verharmlost und nicht fachgerecht behandelt.

Jedes Jahr nehmen sich in Deutschland rund 11000 Menschen das Leben. Das sind mehr Tote als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten und Sucht zusammen. Zum Glück sind die Suizidraten in Deutschland bereits seit den 1980er Jahren rückläufig. Allerdings mit einer Ausnahme: Alte Menschen nehmen sich immer häufiger das Leben.

„Selbstmorde junger Menschen lösen bei vielen Bestürzung aus, bei Alten hingegen ist die Toleranz groß. Der Suizid gilt hier als frei gewählte Entscheidung, nicht als Ausdruck psychischer Not“, kritisierte die Leiterin des Frankfurter Stadtgesundheitsamtes, Sonja Stark, bei einer Veranstaltung der Evangelischen Stadtakademie am Römerberg.

Gefragt ist sowohl die Aufmerksamkeit der Angehörigen wie auch der Gesellschaft, um den Trend zum Suizid im Alter zu stoppen. Dazu gehört in erster Linie, dass negative Altersbilder überwunden werden. Noch immer ist die Meinung weit verbreitet, dass Altwerden etwas Schlimmes sei. Im Alter ist man nicht mehr so mobil und wird eher von allerlei Krankheiten geplagt. Außerdem halten viele es für normal, dass alte Menschen einsam sind. Deshalb ist der Gedanke verbreitet, angesichts von so viel Elend könne man doch die Entscheidung zum Suizid nachvollziehen. Der Suizid eines alten Menschen gilt oft nicht als Skandal, sondern vielmehr als „natürliche“ Entscheidung. Und wer hat angesichts der Katastrophenmeldungen im Hinblick auf zukünftige Pflegenotstände sich nicht schon selbst einmal mit dem Gedanken getröstet, dass ja, wenn es hart auf hart kommt, immer noch die Option besteht, das eigene Leben zu beenden?

Dies aber ist eine fatale Einstellung, findet Hans-Joachim Kirschenbauer, der Leiter der Abteilung Psychiatrie im Stadtgesundheitsamt. Denn sie führe dazu, dass insbesondere Depressionen bei alten Menschen häufig unerkannt bleiben oder bagatellisiert werden. Wenn Altsein als schrecklich gilt, empfindet man es schließlich als ganz normal, dass alte Menschen ihre Lebensfreude verlieren. Und gegen die Normalität hilft keine Therapie. Wozu also Antidepressiva verschreiben oder zu einer Therapie raten?

Auch andere Klischees zeigen ihre Wirkung, etwa die enge Verbindung, die in der öffentlichen Debatte zwischen Alter und Demenz gezogen wird. Kirschenbauer hat beobachtet, dass viele Ärzte bei alten Menschen recht schnell eine Demenz diagnostizieren, Depressionen aber selten. In Frankfurt will das Stadtgesundheitsamt dieses Problem jetzt gezielt angehen: In einer Kooperation zwischen Hausärzten, der AOK und Pflegeheimen sollen alle Beteiligten für das Thema Depression im Alter sensibilisiert werden.

Noch ein anderes Vorurteil will Kirschenbauer entkräften: Dass sich nämlich bei alten Menschen eine Psychotherapie nicht mehr „lohne“. Auch im Alter seien psychische Erkrankungen aber Erkrankungen – und nicht der normale Lauf der Dinge.

Wenn es zum Suizid gekommen ist, dann bedeutet das besonders für die Familienmitglieder eine große Belastung. „Wenn Menschen Angehörige durch einen Unfall oder eine Krankheit verlieren, bekommen sie die Sympathie ihrer ganzen Umgebung“, hat Notfallseelsorger Dieter Roos beobachtet, „bei Suizid steht oft der Verdacht im Raum, dass da doch in der Familie etwas schief gelaufen sein muss.“

Doch auch dies ist ein Fehlschluss. Es sei voreilig zu glauben, dass Suizid ein Beweis für soziale Vereinsamung sei, betont auch Renata Wagner von der Frankfurter Selbsthilfegruppe „agus e.V.“: „Es gibt viele Suizide, bei denen hinterher alle sagen: Wieso denn ausgerechnet der, der war doch so gut eingebunden!“

Wagner plädiert für eine Entlastung der Angehörigen: „Familienmitglieder sind oft zu nah dran und in Beziehungsdynamiken verwickelt, um etwas tun zu können“, betont sie.

Suizid im Alter: Wer ist gefährdet?

Die Hauptursache für Suizide im Alter sind, wenig überraschend, Depressionen. Nach Auskunft von Barbara Schneider, Psychiaterin an der Frankfurter Uniklinik, sind mehr als zwei Drittel aller Suizidopfer depressiv. Eine ebenfalls große Gruppe ist suchtkrank, andere Krankheiten spielen eine eher geringe Rolle.

Männer sind im Alter deutlich gefährdeter als Frauen: Bei den über 75-Jährigen nehmen sie sich doppelt so oft das Leben wie Frauen, bei den über 85-Jährigen sogar viermal so oft. Schneider vermutet, dass Männer größere Schwierigkeiten haben, sich mit ihrer zunehmenden Abhängigkeit im Alter abzufinden. Sie könnten schwerer damit umgehen, gesellschaftlichen Einfluss zu verlieren, und Suizid biete ihnen gewissermaßen eine Möglichkeit, die Situation doch noch zu „beherrschen“. Anlass für den Suizid ist bei Männern über 80 meist eine Erkrankung oder der Tod der Frau. Bei den etwas jüngeren zwischen 60 und 75 Jahren spielen auch finanzielle Probleme eine Rolle.

Aber auch Frauen sind gefährdet. Sie spielen nämlich ebenfalls mit dem Gedanken an Suizid, gehen den Weg aber nicht mit der gleichen Konsequenz zu Ende: Während bei Männern auf einen Suizid zwei Versuche kommen, sind es bei den Frauen zwanzig. Das heißt: Auch Frauen verlieren im Alter häufig die Lebensfreude. Anlass für den Suizid ist bei ihnen meist ein Umzug ins Heim, der sie aus ihrem vertrauten Wirkungskreis reißt.

Im Übrigen gibt es auch rein organische Ursachen für ein Suizidrisiko im Alter, wie Schneider betont, etwa einen Mangel des so genannten „Glückshormons“ Serotonin. Hier seien die Hausärzte gefragt, dies zu erkennen und medikamentös zu behandeln.

Was Angehörige tun können

* Wenn der Verdacht besteht, ein Angehöriger könne Suizidgefährdet sein, hilft Reden: Je direkter das Thema angesprochen wird, desto besser, sagt Hans-Joachim Kirschenbauer vom Stadtgesundheitsamt Frankfurt. „Es ist ein großer Irrtum zu glauben, wenn man Suizid anspricht, könne man den anderen überhaupt erst auf die Idee bringen. Man muss den eigenen Widerstand gegen das Tabuthema überwinden.“
* Niemand lässt sich zum Selbstmord verleiten. Aber nur die wenigsten Menschen, die einen Suizid planen, sind ihrer Sache hundertprozentig sicher. „Wer wirklich gehen will, geht auch“, weiß Kirschenbauer. Bei den Unentschlossenen hingegen bestehen durchaus Chancen, sie umzustimmen. Oft glauben sie, es gebe keinen anderen Ausweg, und ließen sich durchaus gerne vom Gegenteil überzeugen.
* Ein möglicher Gesprächsanfang ist: „Denkst du manchmal darüber nach, dir das Leben zu nehmen?“ Je konkreter, desto besser. Wichtig ist, das Thema erst anzusprechen, wenn man sich selbst gründlich damit auseinander gesetzt hat. Denn man muss eine ehrliche Antwort auch hören können.
* Angehörige können auf keinen Fall selbst therapeutisch tätig werden. Sollte sich zeigen, dass Suizid tatsächlich im Raum steht, müssen sie unbedingt professionelle Hilfe holen. Denn durch das Reden allein ist die Krise nicht überwunden: Es ist auch ein Irrglaube, dass Menschen, die über Selbstmord reden, ihn dann nicht ausführen.
* Informationen und Beratung bekommt man beim Sozialpsychiatrischen Dienst des Stadtgesundheitsamtes (Bezirk Nord: Telefon 95115832, Süd: 66370611, West: 30035711, Ost: 469980412) sowie auf der Internetseite „www.suizidpraevention-deutschland.de“.
* Hausbesuche machen auch Pfarrerinnen und Pfarrer, oder man wendet sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge unter der kostenlosen Nummer 0800-1110111.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 1. Mai 2008 in der Rubrik Ethik, erschienen in der Ausgabe .

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Dr. Antje Schrupp ist geschäftsführende Redakteurin von Evangelisches Frankfurt. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com.