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Aktuell

1. Juni 2008

Die Rückkehr des Wunderglaubens

p(einleitung). Nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach glauben 56 Prozent der Deutschen an Wunder – sechs Jahre zuvor waren es nur 29 Prozent gewesen. Woher kommt diese neue Attraktivität des Wunderglaubens?

!(rechts)2008/06/seite05_links.jpg(Glaubte nicht an die „Geister- und Wunderwelt“ der Bibel: Der evangelische Theologe Rudolf Bultmann wollte das Christentum von allen Mythen befreien. | Foto: epd-Bild)!

Über Jahre wurde der Wunderglaube mit spitzen Fingern angefasst – selbst in den Kirchen, deren Tradition doch so viele Unerklärlichkeiten kennt. Heute scheint man wieder nach dem zu greifen, was sich kaum packen lässt. Bei einem Studientag im Haus am Dom ging es um die Frage, ob es Wunder gibt, und ob der Glaube sie vielleicht sogar braucht.

Gerade die evangelische Kirche, die keine Wallfahrtsorte oder Verehrung von Wundertätigen kennt, ist herausgefordert. Denn es war ein evangelischer Theologe, der vor gut sechzig Jahren predigte, dass Religion auch ohne Wunder auskommt: Der Marburger Theologieprofessor Rudolf Bultmann entwarf das Projekt der „Entmythologisierung“. 1941 schrieb er: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“

Man kann offenbar doch. Auch Schulmediziner berichten von Fällen, in denen sich Krebszellen spontan zurückbilden. Von seinen Recherchen im Grenzland der wissenschaftlichen Medizin berichtete Fernsehredakteur Joachim Faulstich. Ob die „gute Kräuterhexe“in Büdingen, eine Hände auflegende Medizinerin in Frankfurt oder der Gesang der Schamanen in Naturreligionen, stets lautet Faulstichs Interesse: Was ist noch möglich, wenn nichts mehr „machbar“ zu sein scheint? „Bei einer Heilung spielen viele Faktoren eine Rolle. Das Wunder planen kann man aber nicht.“

Mediziner erkennen Spontanheilungen respektvoll als „Rätsel“ an. In der Esoterikszene hingegen gilt das Wunderbare als erklärbar: „Die Meister behaupten ja, sie hätten das Wissen, nur sei es verborgen, eben okkult“, kritisierte der Biologe und evangelische Weltanschauungsexperte Hansjörg Hemminger. Wer über Geheimwissen verfügt, kann sich das bezahlen lassen. Also bieten Gurus unentwegt Heilwasser an, da gibt es Thors Hammer im Internet für 20 und eine CD mit göttlichen Energien für 1200 Euro. Für Hemminger muss ein Wunder freilich unerforschlich bleiben: „Es hat die Aura des Unwiederholbaren.“

!(kasten)2008/06/seite05_mitte.jpg(Ob sie durch ein Wunder wieder gesund wird? Schwerkranke im katholischen Wallfahrtsort Lourdes. | Foto: epd-Bild / Caro Kaiser)!

Was den einen wunderbar erscheint, ist für andere übrigens nicht unbedingt ungewöhnlich. Ein Schamane, der einen Menschen heilt, empfinde das als ganz normal, so Faulstich. Das Wunder ist also auch eine Frage der Pers-pektive. Vielleicht lässt sich sogar allgemeiner sagen: Der Wundergläubige will sich nicht beschränken lassen, sondern ahnt hinter den üblichen Grenzen das erfrischend Unbekannte.

So gesehen war auch die einstige Abwehr des Wunderglaubens seitens Rudolf Bultmanns etwas Wunderbares. Er wollte Glauben und rationale Vernunft vereinbaren, war überzeugt, dass die biblische Überlieferung auch denen etwas sagen kann, die keinen Umgang mit Engeln, Dämonen und Wundern haben. Die sich jetzt wieder anbahnende Rückkehr des Geheimnisvollen gleicht einem Pendelschlag in die andere Richtung. Viele Menschen haben wohl genug von einem Glauben, der immer nur gelehrt auftritt. Eine nur auf Vernunft setzende Religion klingt nach Mäßigung und Mittelmaß, nach einer Hoffnung, die stets damit beschäftigt ist, nur ja nicht zu viel zu wollen.

Auf Dauer kann das nicht sättigen. Wer freilich noch den Hunger kennt, darf sich freuen: Das Fabulieren hat längst schon wieder begonnen, der Glaube bildet kindliche Legenden und wird noch viele wundersame Geschichten erzählen.

p(autor). Georg Magirius

h3. „Manches lässt sich eben nicht erklären“

Warum nimmt der Wunderglaube zu?

!(rechts)2008/06/seite05_rechts.jpg(Hans Gasper ist Experte für Weltanschauungsfragen bei der katholischen Deutschen Bischofskonferenz | Foto: Georg Magirius)!

bq. Der schlichteste Grund: Weil die Wissenschaft nicht alles erklären kann. 200 Jahre hatte sie die Vorherrschaft, nun merkt man: Sie ist an eine Grenze gekommen, Beispiel Klimakatastrophe. Und wenn jemand krank wird, erfahren viele: Die Schulmedizin löst nicht alle Probleme. Man fragt weiter und hofft auf eine Instanz, die helfen kann. Das scheint tief eingewurzelt zu sein.

Hat jemand, der an Gott glaubt, zu Wundern einen besonderen Bezug?

bq. Ich würde sagen, ja. In Lourdes etwa passiert so viel, was man Wunder nennen kann, das lässt sich nicht erklären. Das wird ja auch strengen Prüfungen unterzogen. Dazu gibt es wachsende charismatische Bewegungen, wo man fest an Wunder glaubt. Andererseits bestreiten manche Exegeten die Wunder Jesu oder legen sie anders aus. Aber auch da hat sich in den letzten Jahren viel geändert, die Skepsis hat nachgelassen.

Worin sehen Sie Gefahren beim Wunderglauben?

bq. Vor allem in der Wundersucht! Man kann ein Wunder nicht erzwingen. Wenn man es verfügbar machen will, dann wird es gefährlich. Ein Wunder bleibt ein göttlicher Eingriff.

Kommt die Stärke des Christentums nicht gerade auch dann zum Tragen, wenn man kein Wunder erfährt?

bq. In der Tat. Bei aller Offenheit für das Wunderbare, das geschehen kann: Der normale Weg des Lebens ist es, mit all dem Schweren umzugehen. So sind Wunder vielleicht auch eher ein Zeichen Gottes dafür, dass das Schwere nicht das Letzte ist, sondern vorläufig. Er ist uns nahe, was auch geschieht.

p(autor). Interview: Georg Magirius

h2. „Auch das Unvollkommene ist schön”

p(einleitung). Pfarrerinnen und Theologen sehen die „Norm des Gesunden” kritisch

Wunder gibt es immer wieder – zumindest hoffen gerade viele Kranke auf ein Eingreifen des Himmels, auf ein Wunder, das sie wieder gesund macht. Die meisten erleben freilich keine Besserung, auch wenn sie intensiv um ihre Heilung beten. Auch bei Menschen mit Behinderungen wird offensichtlich, dass der Wunderglaube Grenzen hat.

In dem Buch „Grenzen im weiten Raum“ beschäftigen sich Pfarrerinnen und Theologen kritisch mit der religiösen Wundertradition. Glaubwürdig ist das gerade deshalb, weil die meisten Autorinnen und Autoren selbst behindert sind. Mit einem schlichten Wunderglauben kämen sie nicht weit. Wer keine Beine hat, dem kann auch ein charismatischer Heilungsgottesdienst keine neuen wachsen lassen.

Einige schildern in ihren Beiträgen, wie sie sich durch den Wunderglauben geradezu abgewertet fühlen, weil dabei das „Gesunde“ als Norm gesetzt wird. Das Unvollkommene müsse aber nicht als Defizit verstanden werden. Jesus selbst sei nach der Auferstehung, also dem Wunder aller Wunder, „an unvergänglichen Narben, herrlichen Wunden“ zu erkennen, er befinde sich „in einem Zustand verwundeter Macht“. Viele Texte lesen sich dabei mindestens so spannend wie eine hoffnungssprühende Heilungsgeschichte. Anschaulich wird erzählt, wie das Leben trotz Tücken herrlich glänzen kann.

!(rechts)2008/06/seite05_unten.jpg!

Befreiend ist das auch für Menschen ohne Behinderungen in einer Zeit, wo viele unter fragwürdigen Ansprüchen wie Optimierung, Normerfüllung und Belastbarkeit leiden. Diese Theologen leben und reden anders, indem sie von der zauberhaften Eleganz ihrer Körper erzählen. Sie sind nicht die Norm, sondern faszinierend individuell und schön. Das Buch scheint den Nerv vieler zu treffen: Kurz nach Erscheinen ist es bereits in der zweiten Auflage (Gottfried Lutz/Veronika Zippert, Grenzen in einem weiten Raum. Theologie und Behinderung, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2007, 19,90 Euro).

p(autor). Georg Magirius

p(hinweis). Unter allen Interessierten verlost „Evangelisches Frankfurt“ drei Exemplare des Buches. Einfach E-Mail, Postkarte oder Fax senden – Adressen finden Sie im Impressum.

p(hinweis). *Nachtrag:* In der vergangenen Ausgabe verloste „Evangelisches Frankfurt“ das Buch „Grenzen in weitem Raum“. Die Gewinnerinnen sind Ute Heimann, Giseltraut Naumann und Reinhild Scheerer.

Artikelinformationen

Beitrag veröffentlicht am 1. Juni 2008 in der Rubrik Ethik, erschienen in der Ausgabe .

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