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Aktuell

1. September 2009

Wie mit einer ansteckenden Krankheit

p(einleitung). Das Stigma des „Sozialschmarotzers“ haftet an ihnen, und Vorurteile gibt es zuhauf. Doch wer sind die typischen Hartz-IV-Empfänger und -Empfängerinnen? Wie gestaltet sich ein Leben mit Arbeitslosengeld II? So verschieden die Lebenswelten auch sind, eines ist fast allen gemeinsam: das Gefühl, ausgegrenzt zu sein.

„Ich werde behandelt, als hätte ich eine ansteckende Krankheit“, sagt Ruth Sablowski*, und schiebt sich mit einer Hand energisch eine lange blonde Strähne hinters Ohr. „Manchmal denke ich, ich sollte mir ein Schild umhängen: Achtung, Hartz IV. Dann können die Leute gleich überlegen, ob sie mit mir Kontakt wollen.“

!(kasten)2009/09/seite03_oben.jpg(Es ist frustrierend, bei der Jobsuche eine Absage nach der anderen zu bekommen und sich dann auch noch besserwisserische Ratschläge anhören zu müssen. | Foto: alephnull / Fotolia.com)!

Dass man Freunde und Bekannte verliert, wenn man arbeitslos ist und von Hartz IV lebt, bestätigt auch Reiner Neuhaus. „Das ist nicht immer bösartig gemeint, oft geht es schleichend.“ Reiner Neuhaus und Ruth Sablowski gehören zur Erwerbsloseninitiative „Sommerakademie“, die sich wöchentlich im „Haus der Volksarbeit“ an der Eschenheimer Anlage trifft. Der kleinen Gruppe geht es um sozialen Austausch, um praktische Lebensbewältigung und um Interessenvertretung.

Auch Sigrid Bohrig gehört dazu. Seit eineinhalb Jahren bezieht die Grafikerin Arbeitslosengeld II. Still sitzt die Anfang 50-Jährige mit am Tisch. In Anzug und Blazer wirkt die gepflegte Frau, als käme sie soeben aus einem Meeting. Doch ihre Stimme ist sehr leise, als sie von der Isolation berichtet, die sie erlebt, von der Einsamkeit und der Angst vor der Zukunft.

„Nachdem ich meine Stelle verloren hatte, habe ich nur noch Absagen bekommen, zu alt“, erinnert sich Bohrig resigniert. „Das ist total frustrierend. Jede Absage zieht einen weiter runter. Irgendwann glaubst du, dass du den Job auch gar nicht mehr schaffen würdest.“ Für Sigrid Bohrig ist das eine Gratwanderung an der Grenze zur Depression. „Ich habe Angst abzurutschen und mache mir täglich Pläne, um den Tag zu strukturieren.“ Irgendwie hangele man sich von Verabredung zu Verabredung. Aber die große Frage bleibe: „Wie konnte ich nur in diese Situation kommen?“ Schuldzuweisungen und abwertende Äußerungen von außen wirken dann wie Salz in der Wunde.

„Der Bezug von Arbeitslosengeld II zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten und Berufe“, sagt Michael Eismann, Leiter der Erwerbsloseninitiative „Hilfe im Nordend“ in der Luthergemeinde. „Und es gibt kaum jemanden, der nicht alles versucht hat.“ Seit Einführung von Hartz IV habe auch der Bedarf an Beratung zugenommen, so der Sozialarbeiter. „Der Leidensdruck ist größer geworden.“ Das jetzige System verschärfe die Kluft zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen, ist Eismann überzeugt.

Ruth Sablowski ist die Vorurteile leid. Seit sechs Jahren bezieht die studierte Geisteswissenschaftlerin mit Unterbrechungen Arbeitslosengeld II. „Natürlich habe ich mir meinen Lebensabend ganz anders vorgestellt“, ist die 49-Jährige zornig. Es habe lange gedauert, diese Situation halbwegs zu akzeptieren. Schon viele Jobs hat Sablowski angenommen, die nichts mit ihrer Ausbildung zu tun hatten. Einige Zeit jobbte sie als Verkäuferin in einem Bioladen. „Das hat mir im Nachhinein aber nur geschadet.“ Denn von der Arbeitsagentur wurde sie nun als Verkäuferin eingestuft und bekam nur noch solche Arbeitsangebote. „Dass ich eigentlich etwas ganz anderes gelernt hatte, stand überhaupt nicht mehr im Vordergrund.“

Auch von Freunden hat Rainer Neuhaus merkwürdige Tipps bekommen. „Die sagten: Schau doch mal in der Nachbarbranche. Als ob ich mir selbst keine Gedanken machen würde“, ärgert sich der 45-Jährige. Dass man nach nur einem Jahr Arbeitslosigkeit an den sozialen Rand rutschen könnte, hätte der Ingenieur der Wasserwirtschaft früher nicht gedacht. Jetzt lebt er vom Geld seiner Ehefrau, was an seinem Selbstwertgefühl nagt. „Darum versuche ich, mich schnellstmöglich selbstständig zu machen.“

Ein Leben mit Hartz IV bedeutet mit einem Regelsatz von 359 Euro im Monat auch ein Leben an der Armutsgrenze. „Ich weiß oft nicht, wie ich damit auskommen soll“, sagt Sigrid Bohrig. Einkäufe außer der Reihe gibt es keine mehr. Der Besuch von Veranstaltungen ist gestrichen, und das Bier in der Kneipe wird zum Rechenexempel. Dass sich dadurch auch die Isolation verstärkt, empfindet die Grafikerin als besonders tragisch. „Da bleibt nicht viel, worüber man sich mit Freunden austauschen kann.“

Ruth Sablowski spart am Essen und kauft sich dafür regelmäßig eine Theaterkarte. Als leidenschaftlicher Kunst- und Kulturfan möchte sie sich wenigstens alle vier Wochen „wie ein normaler Mensch“ fühlen. Sie weiß, dass sie dies eigentlich nicht erzählen sollte. „Viele Menschen meinen, dass man sich als Hartz-IV-Empfänger nichts mehr gönnen darf.“ Was sonst normal ist, gelte dann auf einmal als unerhört.

Dass die Arbeitsmarktreform und ihre Instrumente nicht greifen, davon sind die meisten Betroffenen überzeugt. „Druck und Drangsalierung haben noch niemanden aus der Arbeitslosigkeit geführt“, schimpft Rainer Neuhaus. Als Ingenieur habe er sich auf Stellen bewerben müssen, bei denen er ohnehin chancenlos war, weil sie nichts mit seinem Fachgebiet zu tun hatten. Sigrid Bohrig machte ähnliche Erfahrungen. Sie musste zwanzig Bewerbungen in einer bestimmten Frist schreiben. „Da ging es nicht um Jobsuche, es war eher eine Strafarbeit, wie in der Schule.“ Auch Ein-Euro-Jobs führen zu nichts, glaubt Neuhaus: „Sie vernichten nur reguläre Arbeitsplätze.“

Gunter Volz, Pfarrer für gesellschaftliche Verantwortung in Frankfurt, sieht im jetzigen System ebenfalls keine gute Lösung. „Wir sollten über ein bedingungsloses Grundeinkommen nachdenken, und wir brauchen mehr öffentlich geförderte Beschäftigungen, die ausreichend entlohnt werden.“ Es gehe um die Frage der fairen Verteilung von Arbeit und Einkommen. Auch die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn hält er für sinnvoll. „Allen Menschen muss die würdevolle Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht werden“, so Volz. „Wir brauchen kreative Modelle, für die sich auch die Kirche einsetzen muss.“

Bis dahin lebt Sigrid Bohrig weiterhin mit der Angst vor der Zukunft und der Armut im Alter, wie ganz viele, ganz „typische“ Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger.

p(autor). Britta Jagusch

p(hinweis). *?Die Namen der Betroffenen wurden geändert.

Artikelinformationen

Beitrag veröffentlicht am 1. September 2009 in der Rubrik Ethik, erschienen in der Ausgabe .

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