Podiumsdiskussion im Gallus über kirchliches Selbstverständnis
Die Frage der Gerechtigkeit ist zentral für die Kirchen. Und manchen Kirchenleuten liegt sie besonders am Herzen. Einer davon ist sicher der katholische Pfarrer Hans Josef Wüst, der den Großteil seines Arbeitslebens im Gallusviertel gewirkt hat. Bei einem Podiumsgespräch aus Anlass seines 50-jährigen Priesterjubiläums forderten Vertreter und Vertreterinnen der Kirchen aber nicht nur mehr Gerechtigkeit von den anderen. Mit deutlichen Worten zeigten sie sich auch selbstkritisch gegenüber der eigenen Institution.
So sagte der Jesuit und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach, statt nur als Institution aufzutreten, müsse sich die katholische Kirche wieder auf die Grundlagen des christlichen Glaubens besinnen. Dass kirchliche Wohlfahrtsverbände wie die Caritas oder das Diakonische Werk sofort nach Einführung der „Hartz IV“-Regelungen bereitwillig Ein-Euro-Jobs geschaffen hätten, habe mit dem biblischen Gerechtigkeitsbegriff wenig zu tun. Hengsbach forderte besonders die katholische Kirche auf, nicht länger an historischen Strukturen zu kleben, Einblick in ihre Vermögensverhältnisse zu gewähren und Frauen die Türen zu Ämtern öffnen. „Gerechtigkeit ist kein Zustand, sondern das Ergebnis von Auseinandersetzungen“, betonte Hengsbach.
Auch die evangelische Pröpstin für Rhein-Main, Gabriele Scherle, definierte Gerechtigkeit als dynamischen Begriff, der aus der Erfahrung der Ungerechtigkeit heraus immer wieder neu zu bestimmen sei. Die grundlegende Orientierung für die Einzelnen wie die Gemeinden sei hierbei die Praxis Jesu. In der Bibel stehe zwar die „Option für die Armen“ im Vordergrund, aber es sei an keiner Stelle von einer „Option gegen die Reichen“ die Rede. Auch die Wohlhabenden müssten für das Anliegen der Gerechtigkeit gewonnen werden, sagte Scherle, und wies darauf hin, dass sich Arme und Reiche heute fast nur noch in der Kirche begegnen. Auch auf protestantischer Seite seien Fehlentwicklungen zu bedauern, wie zum Beispiel die oft problematischen Outsourcing-Praktiken von Kirche und Diakonie (siehe auch Artikel auf Seite 1).
Norbert Arntz, der als Priester lange in Peru gelebt hat, rief zur „Entkolonialisierung von Kirche, Bibel, Gottesbild und Seelen“ auf. Viel Revolutionäres aus den christlichen Wurzeln sei im Laufe der Zeit verharmlost worden. Den knapp 200 Zuhörerinnen und Zuhörern rief er zum Beispiel den so genannten „Katakombenpakt“ ins Gedächtnis. Darin hatten 1965 vierzig katholische Bischöfe aus aller Welt den Luxus des Vatikan attackiert und unter anderem den Verzicht auf teure Amtskleidung oder Insignien verlangt.
Der Schweizer Theologe Urs Eigenmann schließlich stellte eine „Reich-Gottes-Verträglichkeitsprüfung“ an – bei der die Befreiungstheologie gute Noten erhielt, die institutionelle Kirche aber eher durchfiel. Die Leitungsgremien müssten wieder die „innige Verbindung zu den Armen und Bedrängten suchen“, so Eigenmann. Eine „herrschaftsfreie Glaubensgemeinschaft“ zu etablieren sei zwar kein einfaches Unterfangen, einer tragfähigen Zukunft könne sich aber speziell die katholische Kirche nur dann sicher sein, wenn sie „in ökumenischer Verbundenheit mit dem reformierten Weltbund gegen den Neoliberalismus aufbegehrt“.