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Von – 6. Oktober 2012

Armut en Vogue: Zeichen der Zeit

Dass Armut heute wieder, wie im 19. Jahrhundert, sozialromantisch ästhetisiert wird und ihre Sichtbarkeit im Alltag geradezu pittoresk erscheint, ist Besorgnis erregend.

Antje Schrupp ist geschäftsführende Redakteurin von Evangelisches Frankfurt.

Die Frau trägt klobige Turnschuhe zu einer graumelierten Herrenhose, darüber ein großgemustertes Kleid und eine dicke Winterjacke. Ihr ganzes Hab und Gut, so scheint es, hat sie in mehreren Taschen und großen Plastikbeuteln verstaut. Eine andere sitzt auf Steinstufen, ebenfalls winterlich dick eingepackt, ihre Kleidung wirkt wie aus Spenden zusammengestückelt. Sie hat einen Pappbecher in der Hand, als warte sie auf eine milde Gabe von Passanten.

„Signs of the Time“, Zeichen der Zeit, heißt diese Fotostrecke in der Oktober-Ausgabe der Vogue Deutschland. Sie verspricht „einzigartig extravagantes“ Outfit mit „Eyecatcher-Garantie“. Die Kulisse, in der der Fotograf seine Models ablichtet, bedient sich einer „Ästhetik“ der Obdachlosigkeit. Die Outfits, die hier gezeigt werden, kosten mehrere tausend Euro. Menschen, die von Hartz IV leben, haben ein Monatsbudget für Kleidung in Höhe von 30 Euro und 40 Cent zur Verfügung.

Die auseinander driftende Schere von Arm und Reich ist nicht nur ein ökonomisches Problem, sondern auch ein kulturelles. Deutschland gewöhnt sich daran, dass es wieder Klassenunterschiede gibt – die Armen und die Reichen, sie leben in verschiedenen Welten. Der Wunsch, es müsse bei der Verteilung der Güter dieser Welt irgendwie gerecht zugehen, wirkt zunehmend naiv. Vielen erscheint es ganz normal, dass es „die da oben“ und „die da unten“ gibt. Mit individueller „Leistung“ jedenfalls hat die Diskrepanz der Vermögensverhältnisse schon lange nichts mehr zu tun.

Konsequenterweise tritt an die Stelle von sozialstaatlichem Handeln zunehmend wieder die „Charity“, die freiwillige wohltätige Spende der Reichen. Das merken auch diakonische Einrichtungen: Der Anteil an ihrem Budget, der aus solidarischer, rechtlich garantierter Umverteilung kommt – aus öffentlichen Geldern oder aus Kirchensteuern – sinkt. Der Anteil an Spenden, die durch Fundraising mühsam eingeworben werden müssen, steigt.

Dabei belegen soziologische Studien, dass eine Gesellschaft umso zufriedener ist, je näher die Lebensverhältnisse ihrer Mitglieder beieinander liegen. Ungleich verteilter Wohlstand macht unglücklich – und zwar nicht nur die, die von Armut betroffen sind, sondern auch die anderen, die im Geld schwimmen. Dass Armut heute wieder, wie im 19. Jahrhundert, sozialromantisch ästhetisiert wird und ihre Sichtbarkeit im Alltag geradezu pittoresk erscheint, ist in der Tat ein Zeichen der Zeit. Ein sehr Besorgnis erregendes.

PS: Aufmerksam geworden auf die Vogue-Fotostrecke bin ich durch diesen Blogpost.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 6. Oktober 2012 in der Rubrik Ethik, Meinungen, erschienen in der Ausgabe , .

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Dr. Antje Schrupp ist geschäftsführende Redakteurin von Evangelisches Frankfurt. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com.

Kommentare zu diesem Artikel

  • Jens schrieb am 6. Oktober 2012

    Es gibt keine Satire die nicht irgendwann von der Wirklichkeit eingeholt wird.,, (http://www.youtube.com/watch?v=mVscQYjuq_s)

  • Ulrike Biernoth schrieb am 6. Oktober 2012

    Das schlimme ist eigentlich das es der Mehrheit der Bevölkerung nicht klar wird wo Folter beginnt. Beim Hungern, beim Frieren, beim ausgeschlossensein von Teilhabe am Leben. Was ist Menschenwürde !!!

  • Peter Niebling schrieb am 24. Oktober 2012

    Zeichen der Zeit

    „Mit individueller Leistung jedenfalls hat die Diskrepanz der Ver-mögensverhältnisse schon lange nichts mehr zu tun.“ Die Vermö-gensverhältnisse haben immer mit individueller Leistung zu tun! Denn Leistung bezieht sich nicht allein auf Zeit mal Kraftaufwand. Das macht das Wort Fehlleistung deutlich. Das Vermögen in Euro und Cent erwächst aus dem, was der Mensch zu tun vermag. Der eine macht Warentermingeschäfte, der andere schafft die Vor-aussetzung dazu, und der dritte -dem Anderen sehr Verbunden- hat nicht das Vermögen etwas daran zu ändern. Dass die daraus erwachsende Armut sozialromantisch ästhetisiert wird, ist ein noch harmloses Zeichen der Zeit. Ein weitaus gefährlicheres, nur weniger sichtbares Zeichen, ist das Gefühl der Demütigung. Was daraus entstehen kann ist bekannt.