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Von – 17. November 2015

Warum Laizismus nicht gegen religiösen Fundamentalismus hilft

Laizismus und Säkularisierungszwang führen keineswegs zu mehr weltanschaulicher Toleranz, sie sind im Gegenteil Nährboden für Extremismus und religiösen Fanatismus, meint Lieve Van den Ameele. Die Fechenheimer Pfarrerin, selbst eine gebürtige Belgierin, schreibt aus Anlass der Pariser Terroranschläge über die Fallstricke einer falsch verstandenen Religionslosigkeit.

Frankfurt: Pfarrerin Lieve Van den Ameele Foto aufgenommen am: 16.11.2015 Foto: Rolf Oeser

Lieve Van den Ameele ist Pfarrerin in Fechenheim. Foto: Rolf Oeser

Die neuesten Terrorangriffe insbesondere in Paris haben ins Mark der westlichen Kultur getroffen. Genau darauf haben die Attentäter abgezielt. Die europäischen Staats- und Regierungsschefs zerbrechen sich den Kopf darüber, wie es sein kann, dass die Ausführenden tatsächlich aus der Mitte der französischen und belgischen Gesellschaft kommen. Wie kann es sein, dass Menschen, die hier aufgewachsen und sozialisiert sin d und einen europäischen Pass haben, so „schnell“ zu radikalisieren sind und die Gesellschaft, die sie aufgezogen und ernährt hat, im wahrsten Sinn des Wortes in die Luft sprengen wollen?

Ja, wie kann das sein?! Als gebürtige Belgierin sehe ich die Entwicklung in Frankreich und Belgien als mitursächlich. Beide Länder sind – mittlerweile – entschieden laizistisch geprägt, das heißt Staat und Kirche haben nichts miteinander zu tun: in Frankreich als Konsequenz aus der Revolution, in Belgien auf Drängen der laizistisch-humanistischen Bewegung und aus Protest gegen die Übermacht der römisch-katholischen Kirche in allen Bereichen des Landes vor mehr als hundert Jahren.

Als belgische Protestantin teile ich die Auffassung, dass nicht eine denkerische Gruppierung den ganzen Staatsapparat beherrschen darf. Es kann nicht sein, dass nur wer zur gelben (römisch-katholischen) politischen Säule gehört, etwas werden kann im Lande. Ebenso wenig freilich kann  und darf es sein, dass die blaue (die liberale) oder die rote (sozialistisch-kommunistisch geprägte) Säule das Leben bestimmen. Das laizistische Prinzip sieht eigentlich vor, dass alle sich mit allen arrangieren müssen und dass keiner sich über den anderen erheben darf.

Das Alltagsleben im laizistischen Staat sieht jedoch oft so aus, dass eine Art Zwangs-Säkularisierung um sich greift. Es ist gesellschaftlich verpönt, die Worte „Gott“ und „Glaube“ in den Mund zu nehmen. In Belgien zum Beispiel führt das mitunter zu absurden Diskussionen. Sitzen bei einer Podiumsdiskussion schon mal VertreterInnen des Protestantismus neben Repräsentanten der römisch-katholischen Kirche am Tisch, stellt sich heraus, dass die protestantische Sicht – zum Beispiel in ethischen Fragen – für gewöhnlich nicht weit vom humanistischen Standpunkt entfernt ist, wird dies jedoch im nächsten Zug wieder vom Tisch gefegt mit einer Bemerkung wie: „Ja, die Kirche ist gegen Fortschritt und somit gegen den Humanismus.“

Mit dem Ergebnis, dass kaum noch jemand weiß, wie eine religiöse Debatte geführt werden kann, beziehungsweise denen, die es können, nicht selten ein Maulkorb verpasst wird. In der Folge wissen immer weniger Menschen, woran sie glauben, und sind entsprechend nicht mit Vokabular ausgerüstet, falls sie mal jemandem gegenüber stehen, der oder die sehr wohl in Worte fassen kann, was er oder sie glaubt. Vom Tisch fegen ist für den Moment bequem, aber hilft es auch weiter?

Die Erfahrung sagt: Nein, das ist keine Lösung, denn im Schatten dieses stillschweigenden allgemeinen Religionsverbotes wächst der religiöse Extremismus – sowohl in muslimischen wie auch in christlichen Kreisen. Beide Richtungen sind mehr denn je bereit zum Proselytenmachen (also zum Abwerben von Menschen aus anderen Religionen oder Konfessionen) und pflegen ein elitäres Denken, das weit über den Anspruch hinausgeht, welcher der etablierten Kirche gerne angekreidet wird.

In Deutschland sind wir auf einem ähnlichen Weg wie Frankreich und Belgien. Mag sein, dass es den etablierten Kirchen aus Sicht mancher hier noch viel zu gut geht. Doch hatten wir bereits  einen staatlich verordneten Säkularisierungszwang in der Osthälfte des Landes bis 1989. Mit der Wende waren zunächst alle froh, dass das faktische Religionsverbot aufgehoben wurde; doch führte die Zusammenführung zwangsläufig auch zu einer Verdrängung religiöser Standpunkte im öffentlichen Leben – Stichwort allgemeiner Ethik-Unterricht statt Religionsunterricht.

So ist es allgemein gesellschaftlich akzeptiert, von Halal-Essen zu sprechen – das fällt unter das Stichwort Toleranz –, aber die Rede sollte zum Beispiel nicht auf das Abendmahl kommen – das fällt dann gleich unter religiösen Fanatismus. Dass Halal-Essen ein religiöses Spezifikum der Muslime ist und das Abendmahl für die Christen ebenfalls eine tiefe religiöse Bedeutung hat, fällt dabei unter den Tisch. Zu warnen ist jedoch sowohl vor der Degradierung von Begriffen wie Halal-Essen zum „commonplace“ als auch vor der gesellschaftlichen Ächtung derer, die ihren christlichen Werten und Bräuchen noch etwas abgewinnen wollen. Spätestens dann besteht nicht mehr nur eine „religiöse“ Gefahr, sondern auch eine politische. Wenn nämlich der Extremismus – ob religiös oder politisch gefärbt – unter dem Deckmantel der Wahrung des religiösen Erbguts zum Angriff auf die Gesellschaft bläst. Dieser Extremismus hat viele Namen: Islamismus, Evangelikalismus und Pegida sind nur einige davon.

Der gesellschaftliche Sprengstoff ist also auch hausgemacht und wird – leider – durch Anschläge wie in Paris ans grelle Licht gezerrt. Womöglich ist es mit einem „Jetzt erst recht“ oder „Wir machen weiter, was wir wollen“ nicht getan. Nein, es muss Butter bei die Fische. Was heißt das, was wir wollen, was beinhaltet das eigentlich? Und wer legt künftig fest, was unsere Gesellschaft prägen darf?

Es könnte sein, dass reine Toleranz und Säkularisierungszwang von hier an nicht mehr genügend gesellschaftliche Stabilität bieten. Stattdessen braucht es viel mehr als Toleranz – nämlich andere so akzeptieren, wie er/sie sind, und sie/ihn dann auch aussprechen lassen. Es bedeutet sicher auch, wahrzunehmen, dass nicht alle mit der zunehmenden Säkularisierung glücklich sind. Die Gesellschaft muss es aushalten, dass die Menschen unterschiedliche Bausteine für das Fundament haben, von denen sie getragen werden, und dass das durchaus in Ordnung ist, solange sie gemeinsam an der Zukunft dieser Gesellschaft bauen, stricken, philosophieren.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 17. November 2015 in der Rubrik Ethik, erschienen in der Ausgabe .

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Lieve Van den Ameele ist Pfarrerin in Frankfurt-Fechenheim und Gemeindeberaterin.

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