Als mutig und produktiv gelten Menschen, die nach vorne schauen, die neue Lösungen für neue Fragestellungen haben. So gestalten sie die Zukunft. Ich glaube: Der Mut kommt nicht aus dem Willen zur Problembehandlung, sondern aus dem Nichts. Es ist der Mut, endlich einmal nichts zu tun, er findet sich beim Schauen in die Vergangenheit.
„Die Alten mit ihren alten Ideen bringen uns heute einfach nicht mehr weiter“, reagierte vor einigen Jahren eine ranghohe Frankfurter Kirchenorganisatorin, als ich von einem in ihren Ohren offenbar furchtbar alten Lied eines noch älteren Poeten schwärmte. Mein Fehler: Dass ich noch immer, obwohl doch nun auch nicht mehr verzeihlich jung, schwärme. Noch schlimmer: Das Lied ist offenbar kaum zu ertragende 40 Jahre alt.
Klar, Poesie und Lieder gelten unter problembegeisterten Tätigkeitsfetischisten nicht nur im kirchlichen Milieu wenig. Entweder sei das eine vielleicht noch nett zu nennende Garnierung des wahrhaft starken Hämmerns an den sogenannten heutigen Herausforderungen – oder es wirkt als ärgerliche, weil nie ganz auszurottende Provokation. Denn der gar nicht immer nette Floh springt nicht aus dem Ohr.
Jedenfalls: Das permanente Frisch-nach-vorne-Schauen-Wollen erscheint mir als überhaupt nichts Frisches, sondern als eine Selbstverliebtheit, die das eigene Tun und Können überhöht.
Sinnbild für diese Aktivitätsausstrahlung sind Fußballspieler, die in Interviews den austauschbaren, weil immergleichen Satz von sich geben: „Abhaken. Wir schauen ab jetzt nicht mehr zurück, sondern nach vorn.“ Das gilt für Niederlagen gleichermaßen wie für starke alte Zeiten, in die man ja genauso blicken kann. Beides aber schmälert die eigene Bedeutung.
Nur gewinnt man so keinen Mut, sondern macht nur weiter und immer fleißig mit bei dem, von dem man meint, dass es lebendig und belebend ist, nur weil es vielleicht auf imposante Weise aufgedreht und hektisch wirkt.
Die Fans sogenannter Traditionsklubs reagieren anders als die Spieler. Sie schauen oft in alte Zeiten, was sie womöglich mit einem Schriftsteller wie Maarten t’Haart gemeinsam haben, wie Fans ja ohnehin in erster Linie Schauende und nicht Machende sind. In seinem Buch „Die grüne Hölle“ jedenfalls sagt t’Haart, er schaue allenfalls bei der Gartenarbeit nach vorn. Denn wenn er etwas pflanze, wisse er nicht, ob er das Blühen und Aufsteigen der Pflanzen überhaupt noch erlebe. Ansonsten schaue er zurück.
Für Aktivitätsmonster klingt so etwas entmutigend, für Rückschauer aber witzig, weil es auf Distanz zu denen geht, die die Welt als Ball betrachten, den man dank des eigenen Willens mal eben so auf den richtigen Weg befördern kann.
Was ist aber ist denn der Reiz am Vergangenen? Dass man dort auf Kräfte stoßen kann, die bis heute nachweislich wirksam sind. Nein, das ist falsch, diese Kräfte lassen sich natürlich nicht im üblichen Sinn nachweisen, wie das hier angetippte Geheimnis der Ermutigung eben auch etwas anderes völlig anderes ist als ein Rätsel, das sich lösen lässt.
Das Geheimnis des Alten ist ein Erfahrungsraum, durch den man spaziert, in dem man schnüffelt, ohne zum Detektiv zu werden, der ein Verbrechen lösen will. Natürlich gibt es im Zurückliegenden Verbrechen, die uns heute noch bestimmen – und damit ebenso belegen, dass man der Gegenwart dank der Machbarkeitsattitüde eben auch ihre Tiefe nimmt.
Aber es gibt im Alten und nur vermeintlich Vergangenen ebenso Kräfte, deren fantastisch starke, wenn vielleicht auch leise Wirkung indessen heute nicht spürt oder spüren will, weil man ständig mit den Aufgaben aus Gegenwart und Zukunft beschäftigt ist, die man jetzt oder bald wieder in Angriff nimmt.
Trost statt Gremium
Bitte verzeihen Sie! Ich weise jetzt auf ein Lied hin, das noch älter ist als 40 Jahre. Da erzählt jemand, dass sich die Seele nicht trösten lässt. Das ist kein Anamnese, Exegese oder Problemskizze, sondern ein Schrei. Und doch schön, weil ein Schrei so viel menschlicher klingt als all das technokratische Lebensbehandlungsvokabular, dank dem wir alles unbeherrschbar Lebendige auf Abstand halten können.
Allein schon Worte wie Seele und Trost – sie finden sich in den Werkstätten der Problematiesierungstüftler nicht. Aber es kommt noch schöner. Statt eine Zukunftswerkstatt zu installieren, wobei gerade das das Lied nach heutigen Maßstäben ziemlich nötig hätte, weil es weit über 2000 Jahre alt ist und also allen Grund dazu hätte, in unsere unterdessen mehr als 2000 Jahre fortgeschrittene Zeit und noch darüber hinaus nach vorn schauen zu wollen – also statt „Vorwärts!“ zu rufen, schaut das Lied zurück.
Wo soll das alles nur enden? Im Geheimnis der Ermutigung, in einer Macht, die heute hörbar wäre, wenn man nicht Worte wie Seele und Trost durch Gremium und Struktur ersetzen würde, wenn man also noch einen vagen Sinn fürs Erzählen, Glauben, Hoffen hätte.
Das Lied gedenkt. Es singt von alten Wundertaten wie der Teilung des Entmutigungsmeeres, die heute wieder möglich sei. Und nein, das hat man nicht selbst bewerkstelligt, weil man damals nämlich noch gar nicht lebte, dieses Problem damit nicht behandeln konnte und auch keinen Mentaltrainer hatte, der animierte, das Alte sofort abzuhaken. Es muss anders zugegangen sein.
Davon ahne ich etwas, wenn ich mich in die alten Worte einsinge, in eine Kraft, die man heute leider kaum mehr beim Namen nennt, weil das als peinlich gilt, als herkömmlich und altersschwach. Was aber gar nicht stimmt, da es verwirrend schön und anders als nach Werkstatt klingt, nämlich nach einer unentwirrbar steten Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft in einem: Gott.
P.S. Es ist ein Psalm. Ah, die Nummer! Die Nummer muss genannt werden. Es ist Nummer 77.