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Von – 21. September 2016

„Sozialer Protestantismus“: 125. Jubiläum in Zeilsheim

Der „Mittelrheinische Verband Evangelischer Arbeitnehmer e.V.“ feierte vergangenes Wochenende in Zeilsheim sein 125-jähriges Bestehen mit einer Akademischen Feier und einem Gottesdienst. Wir dokumentieren die Predigt von Pfarrer Ulrich Matthei, in der er die Geschichte des „sozialen Protestantismus“ nachzeichnet. 

Beim 125. Jubiläum der .. (v.l.n.r.) Referent Gerhard Wegner, Pröpstin Gabriele Scherle, Pfarrer Ulrich Matthei von der Gemeinde Zeilsheim und der Vorsitzende Bernd Blecker- Foto: Fred von Heyking

Feierten das 125. Jubiläum in Zeilsheim (v.l.n.r.): Gerhard Wegner vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland, die Pröpstin für RHein-Main, Gabriele Scherle, Ulrich Matthei, Verbandspräses und Pfarrer der Gemeinde Zeilsheim, sowie der Vorsitzende des Verbandes, Bernd Blecker.  Foto: Fred von Heyking

Predigt zum Festgottesdienst zur 125 Jahr-Feier des Mittelrheinischen Verbandes Evangelischer Arbeitnehmer e.V. am 18. September 2016 in der evangelischen Kirche in Frankfurt-Zeilsheim vom Verbandspräses Pfarrer Ulrich Matthei.

Liebe Festgemeinde, heute haben wir einen Grund zu feiern, denn unser Geburtstagskind – der Mittelrheinische Verband Evangelischer Arbeitnehmer e.V. – wird 125 Jahre alt. Gestern wurde bereits bei einer Akademischen Feier im EGZ gefeiert. Professor Dr. Gerhard Wegner aus Hannover vom Sozialwissenscahftlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland hatte uns eindeutig an die Zusammenhänge zwischen der Arbeiterschaft und der Kirche in ihrer volkskirchlichen Sozialform erinnert.

Heute soll mit diesem Festgottesdienst und dem anschließenden Empfang öffentlich unser Geburtstagskind geehrt werden. Deshalb darf ich Sie jetzt einmal bitten, ihre Uhren 125 Jahre zurückzudrehen, um sich zu vergegenwärtigen, aus welcher Tradition wir eigentlich herkommen.

Über die Gründungsjahre ist uns nur sehr wenig bekannt ist. In seiner Chronik zur 100 Jahrfeier des MVEA vom 26.10.1991 schrieb der frühere Vorsitzende Walter Stalp: „Die Geschichte der Evangelischen Arbeiterbewegung … beginnt … mit der Erarbeitung eines ersten Satzungsentwurfs im November 1890 und der Gründung des Verbandes als ein Landesverbandes des „Gesamtverbandes der evangelischen Arbeiterbewegung in unserem Raum.“

Damals zeichneten sich im politischen Raum sehr große Veränderungen ab: Der machtbesessene junge Kaiser Wilhelm II wollte die Macht Bismarcks brechen und so entließ er ihn im März 1890 („Der Lotse geht von Bord“).

Um die Macht der Sozialdemokratischen Partei zu schwächen, folgte der Kaiser einer neuen Strategie: So erweckte er sehr geschickt zu Beginn seiner Regierungszeit in der Bevölkerung Hoffnungen auf den Ausbau des Arbeitsschutzes, die Neuregelung der Arbeitszeit, die Einrichtung von Schiedsgerichten zwischen Arbeitern und Unternehmern sowie die Einschränkung von Frauen- und Kinderarbeit.

Kaiser Wilhelm II. war zwar grundsätzlich bereit, der Arbeiterschaft einige soziale Verbesserungen zuzugestehen, allerdings duldete er nicht ihre politische Mündigkeit. Als seine zahlreichen Versprechungen nicht zum erhofften Niedergang der Sozialdemokratie führten (die Sozialdemokraten gewannen zwar 1890 die Wahlen; aber aufgrund der vorgegebenen Sitzverteilung hatten sie nicht die Mehrheit), verlor der Kaiser das Interesse an der „sozialen Frage.“

Um den Kommunisten und Sozialisten das „Alleinvertretungsrecht“ der Arbeiterschaft (mit ihren Arbeiterbildungsvereinen) streitig zu machen, wandten jetzt sich die beiden großen christlichen Kirchen der sozialen Frage zu.

Wenn allerdings Kardinal Reinhard Marx jüngst den „Alleinvertretungsanspruch“ seiner Kirche zu Ausdruck bringt (siehe: Reinhard Kardinal Marx: Gerechtigkeit und Teilhabe für alle. In: Kirche und Gesellschaft, Nr. 432; Hg.: Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle, Mönchengladbach, 2016), dann ist das historisch nicht korrekt: Denn damals kritisierten beide Kirchen scharf die Unterdrückung der Arbeiterschaft. Häufig wird die Enzyklika „Rerum novarum“ von Papst Leo XIII. aus genau dem Jahr 1891 als erste „Sozialenzyklika“ beschrieben. Ganz falsch ist diese Behauptung nicht, denn vor dem Hintergrund der Herausforderungen der Industrialisierung und der Arbeiterfrage mussten beide Kirchen reagieren: Während die katholische Kirche sich durch die Enzykliken Verhör verschaffte und durch den „Volksverein für das katholische Deutschland“ zum Träger sozialer Arbeit sich formierte, geschah bei den protestantischen Kirchen die Neuordnung eines „Sozialen Protestantismus“ durch einzelne protestantische Repräsentanten wie Heinrich Wichern oder Friedrich Naumann. Es waren hier nicht die Kirchenleitungen, die handelten, sondern engagierte Theologen und Pfarrer wie Friedrich Neumann, der seine „geistigen Werte“ aus der Vergangenheit in die Welt des Kapitalismus hinüberretten wollte. Für ihn war es klar: Die soziale Misere sei nur aus einer christlichen Haltung zu überwinden. Diese wiederum ist gegründet im christlichen Menschenbild und den Geboten der Nächstenliebe und der Gerechtigkeit, die uns von Gott geschenkt werden.

Daher wollen wir uns auch heute an die Heilige Schrift halten, die für uns wie ein modernes „Navi“ bzw. „geistlicher Kompass“ ist und so zum „Maßstab“ christlichen Handelns wird. Gemäß dem Motto und dem biblischen Auftrag:

„Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (Gal. 6,2).

Liebe Festgemeinde, heute dürfen wir voller Freude und voller Dankbarkeit auch einmal auf die Anfangssituation unseres Ortsvereins zurückblicken: In einem – uns noch erhaltenen Protokollbuch – wird erwähnt, wie Pfarrer Hans Weber an die Entstehungszeit des Evangelischen Arbeitervereins erinnert. So berichtet er von dem Bergmann Ludwig Fischer, der bereits schon 1882 in Gelsenkirchen mit der Arbeit eines Evangelischen Arbeitervereins in Berührung gekommen war.

Dieser nun kam – wie so viele Arbeiter – zu den Farbwerken nach Höchst und wohnte seit der Jahrhundertwende hier in der Zeilsheimer „Colonie“. War bis zu diesem Zeitpunkt Zeilsheim ein katholisches Bauerndorf gewesen, kamen nun zu den „Rotfabrikern“ auch zahlreiche evangelische Christen nach Zeilsheim. Diese hatten es zunächst sehr schwer, denn die katholische Mehrheit ließ sie spüren, dass man sie um ihres Glaubens willen nicht gerade liebte. Aber sie hatten auch innerlich viel zu leiden, denn sie besaßen keine Kirche, keinen eigenen Pfarrer und es gab auch keine Glocken, die zum Gebet riefen.

Weiter wurde in der Festchronik beschrieben: Es waren 22 evangelische Männer, die am 15. Dezember 1901 den Evangelischen Arbeiterverein in Zeilsheim gründeten. Sie kannten sich alle von der Arbeit in den Farbwerken her und trafen sich zunächst im Lokal einer Glaubensgenossin namens Christ, später im Gasthaus „Zum goldenen Löwen“.

In die Arbeit einbezogen waren Frauen und die heranwachsenden Kinder: Es entstand – wie es später Pfarrer Horst Debus beschrieb – „eine geistige Heimstatt für die evangelischen Familien“. Denn sie wurden „für die evangelische Sache gewonnen“. Schließlich bildete der Evangelische Arbeiterverein das „Rückgrat der späteren Gemeinde“.

Mit Dankbarkeit dürfen wir zurückblicken auf dieses aktive Gemeindeleben durch den Evangelischen Arbeiterverein: Denn hier haben Menschen aus ihrem Glauben und aus ihrer sozialen Verantwortung heraus gemeinsam gehandelt: Weder hatten sie in ihrer Vereinsarbeit einen Pfarrer, noch war die Frage, wo man sich treffen konnte, fest beantwortet.

Ihr Glaube war gefordert – aber mit ihrem Glauben auch ihre Solidarität mit den Glaubensbrüdern – und so dürfen wir hinzufügen – mit den Glaubensschwestern.

Gerade in dieser schweren Anfangszeit und den erfahrbaren Demütigungen war es zur Identitätsbildung des Vereins notwendig, feste Glaubensgrundsätze zu propagieren und in der Treue zum Evangelium und zum Verein ein „Christentum der Tat“ aufzubauen. Aus den Chroniken ist zu entnehmen, dass das Wirken in der Kirche ein ganz selbstverständlicher Pfeiler war, auf dem sich der Evangelische Arbeiterverein gründete.

Ein anderer Pfeiler war die Mitwirkung aus christlicher Verantwortung in allen Gebieten des kommunalen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens. Deshalb haben die Mitglieder der Arbeitervereine immer den Glauben und die Tat zusammen gesehen: „Das Beten und das Tun des Gerechten“, wie es später der Theologe Dietrich Bonhoeffer nannte.

Liebe Gemeinde, in der vergangenen Woche reiste ich nach Manchester. Dort konnte ich in alten Fabrikhallen sehen, wie die alten Industriegebäude als Mittelpunkte einer industriellen Revolution dienten:

Das ungebremste Bevölkerungswachstum brachte damals Manchester an die Grenzen der Belastbarkeit. Die meisten Arbeiter waren zu Hungerlöhnen angestellt und sie mussten in erbärmlichen Zuständen leben. Es kam zu Aufständen und in der Chetham Bibliothek konnte ich noch dem Tisch sitzen, an dem Friedrich Engels und Karl Marx über die soziale Lage der englischen Arbeiterschaft gemeinsam nachdachten.

Auch in unserem Land stellte sich die „soziale Frage“ für die evangelische Kirche. Deshalb kam es in Folge des „Evangelisch – sozialen Kongresses“ (von 1890) zu zahlreichen Gründungen von Evangelischen Arbeitervereinen, als einem Ausdruck eines sozialen Protestantismus.

Während die katholische Kirche mit ihrer „Katholischen Soziallehre“ und den eigenen Vereinen eine Antwort auf die soziale Frage fand, blieben im Protestantismus –in erster Linie die sozialkonservativen und die sozialliberalen Positionen übrig.

Aus diesen bürgerlichen Sozialreformbewegungen lassen sich sodann Traditionslinien erkennen, die bis zur „sozialen Marktwirtschaft“ nach dem 2. Weltkrieg führten.

Während an anderen Orten an dem Wiederaufbau von Arbeitervereinen nicht zu denken war, gelang es einigen älteren Herren hier in Zeilsheim den Evangelischen Arbeiterverein wieder aufzubauen. So existiert dieser Ortsverein des Mittelrheinischen Verbandes als eine von Ehrenamtlichen geleitete Gruppe als einziger Ortsverein in dieser Form in ganz Hessen.

Inzwischen hat er sich auch für Frauen geöffnet (1975), seinen Namen in „Evangelischer Arbeitnehmerverein“ (1988) umbenannt und versteht sein Eintreten für die soziale Verpflichtung aus dem Evangelium im Sinne einer „ökumenischen Weite“ (Präses Matthei).

Schwerpunktmäßig arbeiten wir im MVEA durch unseren Ortsverein im Bildungsbereich, wobei die Geselligkeit und gemeinsame Freizeitgestaltung – wie Grillabende oder Studienfahrten- nicht zu kurz kommen.

Mit Dank und mit Freude erlebe ich es als Gemeindepfarrer, wie wir im MVEA auf Grund der eigenständigen Wurzeln unsere eigenen Positionen bestimmen. Genau diese Unabhängigkeit ist von Nöten, um in Zukunft bestehen zu können: Als stellvertretender Vorsitzender kann ich auch Einfluss nehmen auf die Inhalte der Evangelischen Arbeitnehmerfragen auf Bundesebene. Allerdings Könnten dadurch auch Interessenkollisionen mit meinem Arbeitgeber entstehen. Dennoch möchte ich als Verbandspräses im Verein darauf achten, dass eine kirchliche Vereinnahmung nicht passiert.

Es sieht allerdings nicht danach aus, nachdem schon vor vielen Jahren die Landeskirche und die EKD finanziellen Unterstützungen des Mittelrheinischen Verbandes eingestellt haben. Aber – und das wünsche ich den Mitgliedern des MVEA und damit dem Evangelischen Arbeitnehmerverein für die Zukunft: Eine Rückbesinnung auf die Wurzeln unseres christlichen Engagements tut gut!

Nur wer sich solche Erinnerungen einer solidarischen Gemeinschaft bewahrt, kann auch gelassen in die Zukunft blicken. Deshalb möchte ich an dieser Stelle noch einmal das Motto unseres Vereins in Erinnerung rufen:

„Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (Gal. 6.2).

Diesen Satz hat der Apostel Paulus aus der Sicht der Freiheit des Evangeliums formuliert: Denn Christus selbst hat uns zur Freiheit befreit (Gal. 5.1). Die Geschwisterlichkeit besteht darin, dass es uns gelingt, einander beim Tragen der Lasten, die uns auferlegt sind, zu helfen. Leider ist dieser Satz keine Selbstverständlichkeit: Eine Gesellschaft, in der der Individualismus und der Egoismus gefördert wird, tut sich schwer mit den Forderungen eines sozialen Lastenausgleichs. Inzwischen sucht die EKD den nahenden „Schulterschluss mit den Gewerkschaften“, so wie es m. E. in der neuesten Denkschrift der EKD zum Thema: „Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt“ (Gütersloh, 2015) zum Ausdruck kommt.

„Helft einander tragen – so erfüllt ihr das Gesetz Christi“.

Wenn wir Lasten tragen wollen – dann stellt sich die Frage, was unter dem „Gesetz Christi“ zu verstehen ist. Handelt es sich bei dem „Gesetz Christi“ um das Befolgen der 10 Gebote? Gewiss gilt das auch, denn Jesus Christus ist nicht gekommen, um das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen (Mt. 5.17).

Es soll auch nicht heißen: Jesus würde das Gesetz abschaffen. Aber durch ihn erfährt das Gesetz eine neue Qualität: Es preist diejenigen glücklich, die am Rande der Gesellschaft stehen. Die Armen, die Hungernden, die Unterdrückten, die Pazifisten und die Asylsuchenden (Mt. 5.3 – 10).

Jesus Christus fasst die 10 Gebote im Doppelgebot der Liebe zusammen:

„Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Mt. 22.37 + 39).

Hier hören wir, worum es beim „Gesetz Christi“ geht. Es geht um die „Gottes – und die Nächstenliebe“. Beides gehört zusammen.

Diese Liebe lässt sich allerdings weder erzwingen noch befehlen. Nächstenliebe und Barmherzigkeit können wir in unserer Gesellschaft nur erbitten. Diese Einsicht und diese Forderung der Liebe befreien uns von einem falschen Verständnis eines Tragens von Lasten. Schließlich können wir bekanntlich nicht mehr tragen, als wir zu tragen vermögen. Jede Überforderung nutzt gar nichts, sondern schadet nur.

Und so brauchen wir unter unseren auferlegten Lasten nicht zusammen zu brechen. Aber es gilt auch: Wir können Lasten anders verteilen: Wo gibt es noch jemanden, der bereit ist, mitzumachen und anzupacken? Jesus Christus macht uns Mut, wenn er zu uns sagt:

„Was ich euch zu tragen gebe, ist keine Last“ (Mt. 11.30).

Deshalb braucht uns auch vor den Lasten in der Zukunft nicht bange sein. Jesus Christus nimmt uns unsere Lasten des Lebens nicht einfach ab. Aber er hilft uns tragen. Diese Verheißung macht uns Mut und gibt uns Kraft. Gerade, weil Jesus Christus hilft, mitzutragen, haben wir auch wieder eine Hand frei zur Hilfe. In diesem Sinne wünsche ich uns allen, die wir uns in der Arbeit des MVEA engagieren und in der Kirche aktiv sind weiterhin viel Kraft zum Tragen der Not, viel Glaubensstärke, um Hoffnung zu wecken und Gottes reichen Segen, um in der Gemeinschaft Stärkung zu finden.

Amen.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 21. September 2016 in der Rubrik Gott & Glauben, erschienen in der Ausgabe .

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