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Von – 8. Februar 2017

Die Roma – eine Geschichte von falschen Zuschreibungen

Vor rund 600 Jahren kamen die ursprünglich aus Indien stammenden Roma in einer späten Völkerwanderung nach Europa. Anfangs erhielten sie von der deutschen Obrigkeit Schutzbriefe. Ein gewisser „Michel, Graf der Zigeuner“, wie er darin bezeichnet wurde, reiste beispielsweise 1442 mit einem Geleitbrief König Friedrichs III. Doch bald wurde den Zugewanderten unterstellt, sie seien Spione der Türken, also Muslime, oder sie betrieben satanische Kulte wie Wahrsagen und Heilen. Bereits in der Baseler Chronik für das Jahr 1422 werden Roma als „zusammengelaufene Bösewichte, Diebe und Räuber, unnützes Volk“ diskreditiert. Die Zünfte untersagten ihnen vielerorts, ihre Handwerksberufe auszuüben, aus vielen Gebieten wurden sie vertrieben.

Der Bielefelder Literaturprofessor Klaus Michael Bogdal recherchierte gut 20 Jahre für sein Buch „Europa erfindet die Zigeuner“; er kommt zu dem Schluss: „Die Vernichtungsphantasien in Bezug auf die Zigeuner sind immer schneller und brutaler als alle anderen.“ In der Nazi-Diktatur wurden 500.000 Sinti und Roma in Vernichtungslagern ermordet. Schon in der Zeit davor gab es in der Schweiz und in Schweden Zwangssterilisationen von Roma, manchmal wurden ihnen ihre Kinder weggenommen.

In der frühen Neuzeit (circa 1492-1789) wird Sinti und Roma abgesprochen, eine Ethnie zu sein, obwohl sie zu den indogermanischen Völkern zählen und Romanes, eine aus dem Sanskrit abgeleitete eigene Sprache, sprechen. Als Maßstab für den Zivilisationsgrad eines Volkes galt, ein Territorium dauerhaft zu bewirtschaften, eine staatliche Ordnung aufzubauen und eine Schriftkultur zu pflegen. Sinti und Roma hingegen lebten nomadisch und hinterließen kaum historische Selbstzeugnisse, sie überlieferten ihre Traditionen mündlich.

Selbst in der Zeit der Aufklärung, die sich gegen Vorurteile wandte und Toleranz und Menschenrechte auf ihre Fahnen schrieb, gab es Versuche, Roma zwangsweise anzusiedeln und ihnen die eigene Sprache zu verbieten. Im 19. Jahrhundert stellten europäische Ethnologen Sinti und Roma mit Naturvölkern Afrikas und Indianerstämmen auf eine Stufe. Auch die Romantiker formten das Bild einer archaisch lebenden, freien, manchmal gefährlichen Gruppe. Zum Ausgang des 19. Jahrhunderts kamen neue, biologisch argumentierende Verbrechenstheorien auf. Noch 1956 bewertete der Bundesgerichtshof die Verfolgung der „Zigeuner“ als kriminalpräventive Maßnahme gegen „primitive Urmenschen“.

Allerdings vermitteln die überlieferten Akten, in denen Sinti und Roma lediglich als Objekte staatlicher Maßnahmen erscheinen, ein einseitiges und verzerrtes Bild, schreibt das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma. Gerade auf lokaler und regionaler Ebene gab es in Deutschland parallel zur Politik der Ausgrenzung vielfältige Formen eines normalen und friedlichen Zusammenlebens von Minderheit und Mehrheitsbevölkerung.

Der Wissenschaftler Klaus Michael Bogdal spricht von einer verhängnisvollen Geschichte der Zuschreibungen von Eigenschaften, von der „Erfindung der Zigeuner“, die wie gerufen kamen, um an ihnen als Negativbeispiel zu definieren, was christlich, zivilisiert und europäisch ist. So mischten sich Lügen mit in Büchern und Bildern verbreiteten Klischees über eine Minderheit, die seit 600 Jahren zu Europa gehört.

Weiterlesen im Dossier: Die Roma – Fakten über eine Minderheit

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 8. Februar 2017 in der Rubrik Lebenslagen, erschienen in der Ausgabe , .

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Susanne Schmidt-Lüer ist Redakteurin und schreibt vor allem über Sozialpolitik, Kirche, Alter und wirtschaftspolitische Themen.