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Von – 17. April 2017

„Müssen wir jetzt den ganzen Weg wieder zurücklaufen, Mama?“

Afghanische Flüchtlinge leben in Ungewissheit und Sorge. Sie warten seit über einem Jahr auf ihren Asylbescheid. Teile Afghanistans gelten als sicher, sie könnten jederzeit abgeschoben werden. Stadtdekan Achim Knecht fordert einen sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan und besonderen Schutz für Frauen und Minderjährige.

Von der Diakonie Frankfurt betreute Unterkunft für Flüchtlinge in Bonames. Foto: Rolf Oeser

Zahlen, Statistiken, Prognosen. Ist die Rede von Flüchtlingen, fokussiert sich Deutschland gerne auf Daten. Um die menschlichen Schicksale geht es der evangelischen Kirche in Frankfurt. Stadtdekan Achim Knecht fand bei einer Pressekonferenz am Gründonnerstag deutliche Wort: „Die Situation der Afghanen in unserer Stadt und im ganzen Land widerspricht dem, wofür Deutschland steht: Empathie, Mitleiden und Barmherzigkeit für Einheimische und Geflüchtete.“

Also erzählt Michael Frase, Leiter der Diakonie Frankfurt, ausführlich die Geschichte von Familie G: Frau G. floh mit 15 Jahren vor der drohenden Zwangsheirat gemeinsam mit einem Cousin, den sie später heiratete, aus Afghanistan in den Iran, wo ihre drei Kinder geboren wurden. Als der Familienvater zur Front nach Syrien einberufen wird, fliehen mit einem Schlauchboot sie über das Mittelmeer. Herr G. bindet sich seinen Dreijährigen auf den Rücken, damit der bei einem Sturm vor Griechenland nicht über Bord geht. Mit beiden Armen reckt er das eine Woche alte Baby einer kranken Syrerin in die Höhe. Die Eltern haben hier in Frankfurt Anspruch auf 200 Stunden Deutschkurs, die aber laut Michael Frase nicht ausreichen, um auf das Level zu kommen, um arbeiten zu dürfen. Doch wie lernt man Deutsch, ohne Kurs und ohne Arbeit? Wie bekommt man Arbeit ohne Sprachkenntnisse?

Die unsichere Perspektive lähmt

Die Familie erfährt von einem Anschlag auf ein Kabuler Krankenhaus. Drei Neffen des Vaters sterben. Ende März wird der Asylantrag der Familie abgelehnt, sie bekommt aber ein Jahr Aufschub. Oder länger. Was wird, weiß keiner. Der kleine Sohn fragt: „Müssen wir den Weg nach Afghanistan jetzt wieder zurücklaufen, Mama?“

Familie G. kann nicht verstehen, warum die Bundesregierung einige Gebiete Afghanistans als sicher genug einstuft, sie dorthin zurückzuschicken. Fehlende Frauenrechte, Übergriffe und soziale Kontrolle gegen Frauen, Zwangsheirat: Vor all dem flohen sie. „Wir verurteilen solche fundamentalistischen Gesellschaften, schicken aber Familien und Frauen, die selbstbewusst gekämpft und gefährliche Flucht auf sich genommen haben, dorthin zurück. Damit macht sich doch der Westen zu Komplizen der Fundamentalisten“, folgert Stadtdekan Knecht. Er forderte, dass Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren mussten, und Mütter mit Kindern nicht abgeschoben werden dürfen. „Die hatten doch sehr gute Gründe, die gefährliche Flucht zu versuchen!“

Bis jetzt wurde keine der in Frankfurt lebenden Familien abgeschoben. „Die unsichere Perspektive lähmt und belastet, senkt die Motivation und blockiert damit die Integration.“ Deshalb fordert Stadtdekan Achim Knecht eine rechtliche Bleibeperspektive und macht klar: „Afghanistan ist kein sicheres Herkunftsland!“

Abschiebepraxis politisch motiviert

Die Abschiebepraxis der Bundesregierung sieht Prodekanin Ursula Schoen politisch motiviert. Wahlkampf und Angst vor Debatten der Populisten seien Hauptgründe für die Sammelabschiebungen vom Frankfurter Flughafen. „Es wurden nur 70 Personen abgeschoben, aber das hat eine massive Verunsicherung ausgelöst.“ Schoen spricht von „öffentlichen Abschiebeveranstaltungen“ und „Wahlkampftheater“ und befürchtet, dass bis zur Bundestagswahl mit keiner Verbesserung zu rechnen sei, „obwohl hier Menschen am Abgrund stehen“.

Sie rief den Politikern in Berlin zu: „Bekennen Sie sich zur deutschen Leitkultur, also Empathie für leidende und unterdrückte Menschen.“ Die deutsche, von Empathie geprägte Kultur müsse in politische Praxis umgesetzt werden.

Bei Familienzusammenführungen werde wird ein quantitatives Schreckgespenst aufgebaut, „als kämen orientalische Großfamilien und afrikanischen Clans zu uns“, so Schoen. Seit Anfang 2016 ist der Familiennachzug für zwei Jahre ausgesetzt. Ein Spiel auf Zeit, vermutet Schoen: Werden die Minderjährigen innerhalb der „jahrelangen Warteschleifen“ volljährig, verfällt der Anspruch auf legalen Familiennachzug. Ihr sei in Frankfurt kein Fall bekannt, in dem der Nachzug der Familie oder der Eltern eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings aus Afghanistan möglich gemacht wurde.

Familienzusammenführungen sind wichtig

Und das obwohl „der Schutz von Ehe und Familie doch einen so hohen Stellenwert hat“, mahnte Stadtdekan Achim Knecht. „Gerade in der Situation der Entwurzelung und Flucht ist der Rückhalt der Familie unerlässlich und die Grundlage jeder Integrationsbemühung“. Er forderte, dass es möglich sein müsse, den Antrag auf Familiennachzug auch in Deutschland zu stellen und nicht in einem Land in Afghanistan, wo „Kriegshandlungen“ bürokratische Vorgänge erschwerten. Mit Familienzusammenführungen kenne sich Deutschland schließlich seit 1945 aus, so Knecht. „Jeder Vater, jede Mutter kann sich vorstellen, wie es ist, wenn man keine Perspektive hat, die eigenen Kinder wiederzusehen. Dann merkt man, was man den Familien hier antut.“ Mattis ergänzte: „ Jeder kennt das tiefe Bedürfnis, bei denjenigen zu sein, mit denen es ein Vertrauensverhältnis gibt.“

Wie die Verunsicherung die Integrationsbemühungen hemmt, berichtet Jürgen Mattis. Jawid D., heute 17 Jahre alt, kam vor drei Jahren alleine nach Frankfurt, nachdem er von den Taliban entführt und misshandelt worden sein soll. Die Familie ist vermutlich tot, der Junge traumatisiert. Der Neuntklässler wartet seit zwei Jahren auf die Anhörung zum Asylantrag. „Die Behörden bearbeiten die Anträge Minderjähriger nicht, sondern warten, bis die Jugendlichen volljährig sind, um sie dann abschieben zu können“, mutmaßt Mattis. Je näher sein 18. Geburtstag rückt, desto angespannter und gereizter werde Jawid, das Lernen auf die Prüfungen falle ihm schwer. „Er sagt, dass das vielleicht sowieso alles umsonst ist, wenn er doch wieder zurück müsse. Wir haben ihn stabilisiert, nachdem die Taliban sein Vertrauen in die Menschheit zerrüttet hatten. Die ungeklärte Perspektive vergrößern die Unsicherheit und erschüttern das Vertrauen“. Dies sei der „Nährboden für eine völlig falsche Entwicklung. Wenn die jungen Männer untertauchten, könnten sie zum Sicherheitsrisiko werden.“ Die Abschieberegelungen schadeten der deutschen Gesellschaft also.  „Wir müssen alle Ressourcen mobilisieren, damit die Menschen sich hier integrieren können“, forderte Mattis. „Da kann doch niemand was dagegen haben!“

Hintergrund

Von 4.400 Asylsuchende und Flüchtlinge sind zwei Drittel Afghanen. Dass die Frankfurter Kirche über so genaue Zahlen verfügt liegt an der Tatsache, dass die Stadt Frankfurt die zentrale Vermittlung von Unterkünften auf sie übertragen hat. Seit 20 Jahren sorgt sie also dafür, dass auch Wohnsitzlose ein Dach über den Kopf haben. (30 Prozent also 1505 aus Afghanistan, 22 Prozent aus Syrien, 22 aus Eritrea und jeweils 7 Prozent aus dem Irak und dem Iran; Stand März 2017). In der Großunterkunft in Bonames sind vor allem Familien. 475 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF), fast alle in Pflegefamilien oder Jugendhilfeeinrichtungen. Ein Drittel aus Afghanistan (20 Prozent Eritrea, 15 Prozent aus Somalia).

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 17. April 2017 in der Rubrik Lebenslagen, erschienen in der Ausgabe , .

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Manon Priebe ist freie Journalistin in Frankfurt und Würzburg und Mitglied in der Redaktion von "Evangelisches Frankfurt". Sie twittert unter @manonpriebe

Kommentare zu diesem Artikel

  • Helmut Klenk schrieb am 18. April 2017

    Ich habe heute (18.4.) per Post das evangelische frankfurt erhalten. Mir gefällt besonders das neue layout gut. Aber es gibt einen Schönheitsfehler. Die Zeitung ist am 9.4. erschienen – die späte Zustellung (nur bei mir ?) ist aber mit dem Inhalt überholt – schade !
    MfG H.Klenk

  • Antje Schrupp schrieb am 18. April 2017

    Lieber Herr Klenk, – das tut mir sehr leid, der Fehler liegt bei der Post. Wir haben die Zeitungen am 6. April an die Post übergeben, aber offenbar haben einige Zusteller die Ausgaben vor Ostern liegen lassen und erst jetzt mitgenommen. Ich werde das reklamieren – aber vielleicht sprechen Sie auch einmal Ihren Zusteller darauf an?