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Aktuell

Von – 1. Februar 2000

Wenn sich Abgründe auftun

Der christliche Umgang mit der Macht

Spendenkoffer, Lügen, schwarze Kassen – für viele Menschen in unserer Republik tun sich derzeit Abgründe auf, die das Vertrauen in jede Art von Politik zu verschlingen drohen. Dabei müssen wir damit rechnen, dass nur ein kleiner Prozentsatz aller solcher Fälle aufgedeckt wird. Was wir sehen, ist wohl nur die Spitze des Eisbergs. Und die Hoffnung, bei anderen Parteien könne es anders sein, scheint trügerisch. Die Geschichte unserer Republik lehrt uns, dass aus einer CDU-Affäre ganz schnell eine SPD-Affäre werden kann – und umgekehrt. Gemauschelt wird halt überall.

Wie aber sollen Christen sich dazu verhalten? Sollen sie ein Abgrenzungspathos gegenüber dem Staate pflegen, womöglich den Moralapostel herauskehren? Sie wären jedenfalls schlecht beraten, würden sie einfach hämisch auf die Politik und die Politiker herab schauen. Zu empfehlen ist ihnen vielmehr die konsequente Pflege des christlichen Realismus. Dieser besagt im Kern, dass alle Menschen „Sünder“ sind, also in jeder Hinsicht zum Bösen fähig.

Christen wissen aus der biblischen Tradition: Menschen sind dazu bestimmt, Ebenbilder Gottes zu sein, in ihrer Lebenspraxis aber sündigen sie unvermeidlich. Daraus folgt jedoch gerade, dass die demokratische Grundordnung dem Selbst- und Wirklichkeitsverständnis des christlichen Glaubens besser als jede andere uns bisher bekannte Gesellschaftsform entspricht, weil sie das christliche Menschenbild in Rechnung stellt. Denn (nur) sie geht von der Würde der Menschen aus und rechnet mit ihrer Fehlbarkeit.

In der Geschichte der Philosophie und Theologie gibt es zwei unterschiedliche Strömungen, die den Akzent entweder auf die geistige und sittliche Qualität der handelnden Personen oder aber auf die Spielregeln und Verfahrensweisen gesellschaftlichen Umgangs legen. Das Musterbeispiel für den ersten Fall ist Plato, der das Ideal eines „Philosophenstaates“ entwarf. In diesem sollten die moralisch und geistig hoch stehenden „Philosophen“ Herrscher sein.

Der italienische Staatstheoretiker Machiavelli hingegen dachte von der sittlichen Qualität der in einem Staatswesen handelnden Personen gering. Es sei gar nicht die Aufgabe der Fürsten, gut, gerecht oder tugendhaft zu sein. Sie sollten vielmehr die Macht erringen und bewahren und dazu die möglichen Konstellationen von Zufall, Tüchtigkeit und Notwendigkeit zu ihrem eigenen Vorteil nutzen. Verhalten sich unsere heutigen politischen Parteien nicht genau in der von Machiavelli beschriebenen Weise? Etwa zeitgleich mit Machiavelli heißt es bei Martin Luther: „Die Welt ist zu böse und ist es nicht wert, dass sie viel kluge und rechtschaffene Fürsten haben sollte. Frösche müssen Störche haben.“ Wohl gemerkt: Das ist kein Pessimismus, sondern einfach ein der biblischen Sicht des Menschen entsprechender Realismus.

Wenn wir auf Menschen und ihren Umgang mit der Macht schauen, dann tun sich eben immer Abgründe auf. Denker wie Kant oder Popper haben daher den Verfahrens- und Institutionsfragen großes Gewicht beigemessen. Ihr Ansatz war nicht: Wie bekommen wir gute und gerechte Staatsführer? sondern: Welche Institutionen und Strukturen muss es geben, damit ungerechte und unfähige Herrscher nicht allzu viel Schaden anrichten können? Ihr Argument: Wenn Macht den Charakter verdirbt, dann muss sie begrenzt werden: räumlich, zeitlich, institutionell. Diesem Zweck dienen pluralistische und föderalistische Strukturen, überschaubare zeitliche Rhythmen für Parlamente und Ämter, Machtbalance durch Gewaltenteilung und wirksame Kontrollmechanismen.

Demokratische Strukturen allein gewährleisten indes noch nicht das Gelingen von Politik. Sie schließen aber auch die Hoffnung nicht aus, dass kompetente und gerechte Personen an die Macht kommen könnten. Platos Idee des Philosophenstaates war ja motiviert von dem Gedanken, das Elend der Menschen zu vermindern. Dem entspricht es, wenn der christliche Glaube darauf setzt, dass Menschen sich moralisch vervollkommnen, sittlich reifen können.

Der Glaube schließt allerdings aus, dass dies durch Gebote und Gesetze geschehen könne. Nur das Vertrauen auf die schöpferische Liebe Gottes kann Menschen bessern und sie auch gegen die Versuchungen der weltlichen Macht wappnen. So müssten aus christlicher Perspektive drei Faktoren zusammen kommen: die demokratischen Prinzipien und Verfahrensweisen, der platonische Gedanke der Kompetenz der Herrschenden, schließlich – wenn möglich – der christliche Glaube als gleichermaßen realistische wie liebevolle Sicht der Wirklichkeit.

Die Hoffnung der Christen zielt demnach nicht auf einen christlichen Staat ab, sondern geht dahin, dass in einem demokratischen Staat möglichst kompetente, gläubige Menschen herrschen sollten. Damit wären zumindest gute Voraussetzungen für eine gelingende Politik geschaffen. Und doch ist auch mit der Erfüllung aller drei genannten Bedingungen der Erfolg noch nicht garantiert. Denn wo immer Menschen handeln, können sie scheitern und versagen. Das letzte Wort über die Geschichte aber hat zum Glück der liebende, richtende und rettende Gott. Weil er Vergebung schenkt, eröffnet sich den Menschen immer wieder neu die Zukunft.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 1. Februar 2000 in der Rubrik Gott & Glauben, erschienen in der Ausgabe .

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