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Von , – 1. August 2001

Den Faden aufnehmen

Selbstfindung und Gespräch, Trost und Mitfreude, all das kann ein scheinbar simpler Nähkurs vermitteln, wenn Frauen sich aufeinander einlassen.

Angelika S., 68, ist klein und schmal. So klein und schmal, dass sie in der Stadt kaum Kleider zum Anziehen findet. Hinzu kommt, dass man von 1200 Mark Rente im Monat keine großen Sprünge machen kann. An eine Schneiderin ist nicht zu denken. Aber früher, als junges Mädchen, da hat sie gerne selbst genäht: mal einen bunten Rock oder eine Samtjacke. Phantasie hat sie ja. Aber mittlerweile ist die Nähmaschine hoffnungslos veraltet und das, was sie jetzt zum Anziehen braucht, ist komplizierter und zeitaufwendiger zu fertigen. Na ja, Zeit hat sie ja jetzt …

Mechthild P. hat mit 40 Jahren noch Zwillinge bekommen: einen Jungen und ein Mädchen. Sie träumt von einem Röckchen und einer kleinen Hose aus dem selben blauen Stoff mit den roten Herzchen. Das kann ihr kein Kinderkleiderladen bieten. Außerdem braucht sie etwas für sich selbst. Nach der Schwangerschaft sind ihr fast alle Kleider zu eng.

Iris M., 33, muss sparen. Aber Kinderkleider sind teuer. Außer-dem sitzt sie jetzt seit vier Jahren mit kleinen Kindern zu Hause und hat große Lust, unter Leute zu gehen und etwas Schönes zu machen. Einen Abend in der Woche kann ihr Mann ja auch mal die Kleinen hüten …

Ursula A. schließlich näht seit 20 Jahren. Seidene Abendkleider, gut sitzende Kostüme, schimmernde Blusen – alles vom Feinsten und nach der neuesten Mode. Manchmal bringt sie sich Stoffe von Auslandsreisen mit nach Hause. Noch im Flugzeug entsteht eine ganz besondere Kreation vor ihrem geistigen Auge. Die anderen vier Frauen aus ihrem Nähkurs sind auch seit 20 Jahren dabei. Alles haben sie zusammen durchgestanden: Geburten, Scheidungen, Krankheiten und Gartenpartys. Die Gruppe ist ein fester Punkt in der Woche.

Zusammensitzen und nähen – früher saßen die Landfrauen an den langen Winterabenden am Spinnrad zusammen – ist eine alte Frauenkultur. Sie verbindet das Nützliche mit dem Angenehmen: Lebenserfahrungen der Älteren werden in diesem zwanglosen Rahmen gerne aufgenommen und umgekehrt lassen sich ältere Frauen von „modernen“ Ansichten anregen. Nachbarinnen können den Faden aufnehmen und Mütter sich über Kindererziehung austauschen. Frauen erzählen von ihrem Alltag, lachen zusammen und helfen sich gegenseitig. Nebenbei werden Kreativität, Stilempfinden und räumliche Vorstellung geschult.

Allerdings: Wenn die Kleider richtig sitzen sollen, muss man genau sein. Und geduldig. Sehr geduldig.

Da ist es gut, wenn einem eine erfahrene Lehrerin zur Seite steht, die tröstet, wenn etwas schief geht, Schnittmuster und Fachausdrücke erklärt und eine exakte Vorstellung davon hat, wie’s am Ende aussehen soll.

„So stolz“, erklärt Iris M., als sie schließlich mit ihrer ersten selbst genähten Hose vor den Spiegel tritt, „war ich schon lange nicht mehr. Die sitzt genau richtig. Und ich hab’ sie mir selbst genäht!“ Nähkurse bietet die Evangelische Familienbildung überall in der Stadt an.

Artikelinformationen

Beitrag von , , veröffentlicht am 1. August 2001 in der Rubrik Lebenslagen, erschienen in der Ausgabe .

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Stephanie von Selchow ist Redakteurin von "Evangelisches Frankfurt".