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Aktuell

Von – 1. November 2001

Not lehrt beten

Ein seltenes Bild in unserer Zeit: Menschen füllen die sonst häufig so leeren Kirchen, kommen zusammen, um gemeinsam zu trauern, zu beten und ihren Gefühlen der Fassungslosigkeit, Ohnmacht und Verzweiflung Ausdruck zu verleihen. Oder sie kommen, weil sie in diesen Augenblicken innerer und äußerer Not mit ihren Gedanken und Gefühlen nicht allein sein wollen. Unter ihnen auch viele, die in ihrem alltäglichen Leben Distanz zur Kirche wahren, denen Gott fremd geworden ist. Nach den Terroranschlägen in New York und Washington ist das alte Sprichwort „Not lehrt beten“ wieder aktuell geworden. Von Björn-Uwe Rahlwes.

Pfarrer Björn-Uwe Rahlwes ist seit 1992 Mitglied im Redaktionsteam des Evangelischen Frankfurt. Foto: Oeser

Die Bibel kennt vielfältige Situationen, in denen Menschen zu Gott beten. Im Kern sind es jedoch drei zentrale Beweggründe, die Menschen dazu bringen, sich an Gott im Gebet zu wenden. Die Dankbarkeit, die Bitte um die Fülle des Lebens und des Glücks sowie die Nöte, mit denen wir in eben diesem Leben immer wieder konfrontiert sind.

Für den ersten Beweggrund mag stellvertretend für viele Bibelstellen ein Vers aus dem Psalm 139 stehen, in dem es heißt: „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, das erkennt meine Seele.“ Für den zweiten Grund stehen beispielhaft die – nach Martin Luthers „Kleinem Katechismus“ sieben – existenziellen Bitten des „Vaterunser“, dem wichtigsten Gebet, das uns von Jesus von Nazareth überliefert ist.

Vor allem die Bitte Jesu, dass wir Menschen nicht in Versuchung geführt, sondern von dem Bösen erlöst werden, kennzeich net unsere derzeitige Situation treffend. Ich meine damit die Versuchung, dass die Regierungen der westlichen Welt, allen voran die der Vereinigten Staaten, nicht an der Spirale der Gewalt weiter drehen sollten. Sie sollten vielmehr ihr Handeln danach ausrichten, dass Frieden und Gerechtigkeit künftig eine Chance erhalten.

Beide – Frieden und Gerechtigkeit – sind in der biblischen Botschaft untrennbar miteinander verbunden. Folglich gilt: Ohne Gerechtigkeit in der Welt gibt es keinen Frieden!

Volle Kirchen, wie hier in der Alten Nikolaikirche am Römerberg, waren in den Tagen nach dem 11. September ganz normal. Foto: Oeser

Dieser Gedanke führt zu einer weiteren Bitte Jesu aus seinem Gebet, dem „Vaterunser“: Gott möge uns, heißt es da, unsere Schuld an den Verhältnissen in der Welt vergeben, so wie auch wir denen vergeben sollen, die an uns schuldig geworden sind. Das kann und darf nicht bedeuten, dass wir Verständnis für diese unmenschlichen Terrorakte mit ihrem bislang nicht gekannten Ausmaß an Gewalt und Zerstörung aufbringen sollen. Vielmehr erinnert diese Bitte Jesu daran, dass wir die Wurzeln dieses unsäglichen Hasses beseitigen müssen, der Menschen zu solchen Taten treibt.

Damit sind wir mitten im dritten Aspekt, der Menschen dazu bewegt, sich Gott im Gebet zuzuwenden: die unzähligen Nöte, die uns und unser Leben treffen können. „Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen“, hat Luther die damit verbundene Sprachlosigkeit in Anlehnung an den Psalm 130 in Worte gefasst und so ein noch heute bekanntes Kirchenlied geschaffen. Nöte, die unvermittelt über uns hereinbrechen, die ebenso wenig zu verstehen wie zu erklären sind und für die wir Gott nicht verantwortlich machen können. Denn Gott hat uns als freie Wesen geschaffen, bestimmt zur Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit. Gerade angesichts solcher Katastrophen, von Menschen gemacht, spüren wir ganz deutlich: Wir haben unser Leben letztlich nicht in der Hand, erkennen unsere Grenzen und fühlen uns ohnmächtig. Vermeintliche Sicherheiten erweisen sich plötzlich als nicht mehr sicher. Die Kirchen füllen sich, denn Not lehrt beten. In dieser Situation ist die Kirche mit ihrer wichtigs- ten Kompetenz gefordert: einer guten Seelsorge, für alle Menschen, ganz gleich, ob sie sich Gott nahe oder fern fühlen.

Wichtig ist dabei, die zentrale christliche Erfahrung zu vermitteln, dass in der Not das Gebet nicht nur tröstet und stärkt, sondern neue Perspektiven eröffnet. Beten befreit, hilft eigene Grenzen und Ohnmacht zu überwinden, in dem wir uns der höheren Macht Gottes anvertrauen. Sie führt uns gegen alle Ängste zurück ins Leben.

„In Ängsten, und siehe, wir leben“ lautet diese biblische Botschaft, die heute wichtiger ist denn je. Damit wir nicht Gefangene unserer vielfältigen Ängste bleiben, sondern uns für das Leben – in Frieden und Gerechtigkeit – einsetzen.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 1. November 2001 in der Rubrik Gott & Glauben, erschienen in der Ausgabe .

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Pfarrer Björn Uwe Rahlwes war lange Zeit Mitglied der Redaktion von „Evangelisches Frankfurt“. Danach wurde er Dozent am Religionspädagogischen Studienzentrum in Kronberg.