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Aktuell

Von – 1. November 2001

Streiten kann man lernen

Konflikte in der Familie oder im Beruf auszutragen fällt vielen Menschen schwer, doch eine Streitkultur könnte helfen, Auseinandersetzungen sinnvoll zu führen.

Am Samstagmorgen wacht Petra schon früh auf und liegt lesend im Bett. Während sie liest, bemerkt sie, wie Bernd wach wird und zärtlich zu ihr herüber schaut: Will er jetzt kuscheln? Sie liest weiter, jedoch nicht mehr so konzentriert wie zuvor. Sie empfindet seine Nähe als angenehm, jedoch hat sie keine Lust auf mehr. Nach einiger Zeit steht Bernd auf. Petra meint zu spüren, dass er enttäuscht und ärgerlich ist. Er sagt jedoch nichts. Jetzt spürt sie Ärger in sich aufsteigen. Warum ist er immer so verständnisvoll und einfühlsam, anstatt deutlich zu sagen, was er will oder ihr seine Enttäuschung zu zeigen?

Solche oder ähnliche Erfahrungen in der Partnerschaft kennen wohl alle. Petra berichtet davon in einer Gruppe. Es taucht die Frage auf, warum sich Bernd so schweigsam verhält? Ein anderer Gruppenteilnehmer meint, Bernd verstehe Unstimmigkeiten zwischen sich und der Frau so, als wenn in ihrer Beziehung etwas nicht stimme. Einer Auseinandersetzung wolle er aber aus dem Wege gehen. Er kenne dieses Harmoniebedürfnis auch: Wenn ein Konflikt vorkomme, fürchte er schnell um ihre Liebe. Einer an deren Frau fällt auf, dass Petra sich ebenso stumm wie Bernd verhält. Differenzen und eine Auseinandersetzung über unterschiedliche Bedürfnisse werden von vielen als unangenehm oder überflüssig erlebt. Warum haben wir so viel Angst vor Konflikten? Warum fällt es uns so schwer, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und dem Partner mitzuteilen? Wahrscheinlich haben wir in der Vergangenheit keine guten Erfahrungen mit Konflikten gemacht. Ein mutiges Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, zu den eigenen Wünschen zu stehen, konnten daher nicht entwickelt werden. Stattdessen haben viele Menschen offenbar eher erlebt, dass die Tragfähigkeit einer Beziehung überfordert war, wenn Konflikte auftraten.

Diese Erfahrung wird nicht nur in persönlichen Beziehungen gemacht. Auch im Arbeitsleben gibt es Konflikte, sie werden dort ebenfalls nicht gern gesehen, weil sie angeblich das Arbeitsklima belasten. Doch sofern Auseinandersetzungen sie nicht als Ausdruck der Wirklichkeit, sondern als Störung wahrgenommen werden, geben sie kaum Anlass zu Lernprozessen. Da offenbar viele Menschen nicht hinreichend lernen konnten, sich im Streit mit anderen auseinander zu setzen, wurde in der Evangelischen Familienbildung eine Mög} lichkeit zum „Streiten lernen“ entwickelt.

Die spielerischen und experimentellen Lernformen im Kurs „Streiten lernen“ lassen bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern oft sowohl Aggressionshemmungen als auch ein unabsichtliches Überschreiten von Grenzen sichtbar werden. Wer vielleicht bisher Streit eher vermieden hat, schießt in einem Experiment beim ersten Versuch leicht über das Ziel hinaus. Selbstverständlich sollte keine körperliche Gewalt ausgeübt werden. Der Ausdruck von Gefühlen wie Wut, Ärger, Zorn gehört jedoch sehr wohl zum fairen Streiten dazu.

Entgegen der weit verbreiteten Befürchtung, Konflikte und Streiten würden eine Beziehung un nötig belasten oder gar zerstören, kann hier die Erfahrung gemacht werden, wie sich unterschiedliche Auffassungen klären lassen. Konstruktiv und ohne sich zu verletzen streiten zu lernen und eine Streitkultur zu entwickeln ist das Ziel.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 1. November 2001 in der Rubrik Lebenslagen, erschienen in der Ausgabe .

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