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Aktuell

Von – 1. Februar 2003

Fastnacht – verkehrte Welt?!

Verkehrte Welt: Seit ein paar Tagen ist es meine Tochter, die morgens am Frühstückstisch als Erste nach der Zeitung greift. Die bunten Kaufhausprospekte haben es ihr angetan. Welche Verkleidung könnte wohl zu ihr passen – Prinzessin oder Hexe oder doch lieber Fee…?

Gunda Höppner ist Pfarrerin in Niederrad. Foto: Oeser

Später nehme ich die Prospekte dann selbst in die Hand. Diese „Fünfte Jahreszeit“ ist mir etwas fremd. Schließlich bin ich in einer gut protestantischen Gegend aufgewachsen, in der die wenigen katholischen Fassenachter keine wirkliche Chance hatten. Und Fastnacht im Fernsehen? Da springt der Funke bei mir nicht über. Schon eher liegt mir die Alemannische Fassenacht mit ihren urtümlichen Masken. Oder die Faschingsumzüge der Kinder in Niederrad, bei denen ich Ballkleider aus blauen Müllsäcken und viele andere fantasievolle, selbst gemachte Kostüme bestaunen kann. Ansonsten scheint mir Karneval vor allem gut für den Einzelhandel zu sein – wenn die närrische Zeit nicht wie vor zwölf Jahren wegen eines neuen Irakkrieges ausfällt!

Das ausgelassene Treiben, dessen Ursprünge in Norditalien liegen, hat auch in Deutschland eine lange Tradition: „Carne vale!“, Fleisch, leb wohl!, das sind die Tage vor der christlichen Fastenzeit, die im Mittelalter mehr war als nur Heringsessen an Aschermittwoch und Zanderfilet an Karfreitag. Sieben Wochen lang bereiteten sich die Menschen auf die Karwoche vor, ließen in dieser Zeit alles bleiben, was Spaß macht. Klar, dass man vor Aschermittwoch noch mal richtig auf die Pauke hauen musste.

Die bunten Uniformen und Kostüme haben wir der napoleonischen Besetzung des Rheinlands Anfang des 19. Jahrhunderts zu verdanken. Vor Aschermittwoch durfte die Welt auf den Kopf gestellt werden. Generäle und Geistliche ließen sich karikieren und verspotten, wohl wissend, dass sie an den restlichen Tagen des Jahres das Sagen hatten. Die Mächtigen bekamen den Spiegel vorgehalten und machten gute Miene zum närrischen Spiel.

Schade, dass die Fastnacht diesen revolutionären Biss verloren hat. Die Spaßgesellschaft hat das Narrenzepter übernommen, Zeitkritik in der Bütt greift nicht mehr wirklich an. Andererseits sind die Narren ja auch nicht klüger als ihre Zeit, und Missstände auf die Schippe zu nehmen ist nicht mehr wirklich witzig, wenn ohnehin jeder Deutschland in den Abgrund redet.

Vielleicht sollte ich Fasching meiner Tochter und allen anderen Kindern überlassen. Die können noch von Herzen lachen und Spaß haben – vorausgesetzt das Haushaltsgeld reicht für ein cooles Kostüm. Und schon sind meine Gedanken bei Arbeitslosigkeit und Kinderarmut und bei all dem, was heute schlecht ist: sei gegrüßt, Zeitgeist! Verkehrte Welt: Den Menschen früher ging es ja keineswegs besser. Sie haben bestimmt auch geklagt, aber sie haben es auch verstanden, mit allen Sinnen zu feiern. Und das will ich mir nicht nehmen lassen. Mal fünfe gerade sein lassen und wenigstens mal ausprobieren, wie es sich anfühlt, wenn ich so tue, als ob mir das alles keine Angst macht – der nächste Irakkrieg, die Kälte und innere Armut unserer so unverschämt reichen Gesellschaft. Ja, genau das könnte es sein: Probieren, wie sich das anfühlt. Zu allen Zeiten haben Menschen gemeinsam gegen die Angst und das Elend angefeiert, getanzt, gesungen, gelacht, mit Masken und Klimbim, mit Quatsch und ohne Moral. Spottgedichte, freche Lieder und Gauklertricks halfen, die Angst zu verjagen – die Angst vor dem Feind am Stadttor, vor Armut und Gewalt, vor Tod und Teufel. Ein Befreiungsversuch. Die gottlosen Zustände werden spielerisch überwunden, die Welt ver-kehrt, bis oben unten ist und die Magd die Chefin. Spielerisch und deftig – ein Rasseln und Toben gegen Ungemach jeder Art. Und das: gewaltfrei. Verkehrte Welt!

Dass das Fasten sich anschließt, ist kein Zufall. Das gehört zusammen. Denn nach dem wilden Austreiben von Angst und Muff und Alltag und Zorn hatten die Leute dann Kopf und Herz (und auch den Bauch!) freigemacht für Neubesinnung, für Umkehr, für Auferstehung.

Ich lege die Prospekte zur Seite. Vielleicht fange ich in diesem Jahr mal an. Mit einem ulkigen Hut. Das wäre doch schon was.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 1. Februar 2003 in der Rubrik Gott & Glauben, erschienen in der Ausgabe .

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Gunda Höppner ist Pfarrerin in Niederrad.