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Aktuell

Von – 1. März 2003

Der Absturz der tollen Hechte

Viele Menschen haben an der Börse Geld verspekuliert. Problematisch wird es für sie vor allem dann, wenn am Portfolio auch das Selbstwertgefühl hängt.

Die Veränderung ging langsam vor sich. Immer häufiger loggte sich ihr Mann ins Internet ein, um die Aktienkurse abzurufen. Urlaub war nur drin, wenn es im Hotel deutsches Fernsehen gab – zwei Wochen von allen Börsennachrichten abgeschnitten? Undenkbar! Und eine Zeit lang sah es so aus, als habe er Recht: Die Kurse kletterten, das Konto füllte sich. Dass er kaum noch Zeit für die Kinder hatte, selbst beim gemeinsamen Abendessen irgendwie abwesend schien, was wollte sie sich da beschweren? Freunde und Kollegen zollten ihm Bewunderung, holten sich immer häufiger Rat: ein toller Hecht, einer, der sich auskennt auf dem Börsenparkett.

Dann kam der Absturz. Das ganze schöne Aktienpaket kaum noch was wert, das Konto hoffnungslos überzogen, die Vorsorgepläne der Kinder verspekuliert. Freunde und Kollegen ließen sich nicht mehr blicken. Aus dem tollen Hecht war ein Versager geworden. Und trotzdem hing er immer noch verbissen an den Börsennachrichten, wie ein Süchtiger, in der irrationalen Hoffnung, es müsste doch wieder besser werden. Das war der Moment, wo sie zum Hörer griff und bei der evangelischen Suchtkrankenberatung anrief. Und sie war nicht die Einzige: Börsensucht ist ein Phänomen, das inzwischen zum Repertoire der Einrichtung gehört, die sich ansonsten um Alkoholkranke oder Medikamentenabhängige kümmert – und um Glücksspieler, betont der Leiter Joachim Otto. Genau deshalb habe die Frau auch völlig Recht gehabt. Denn das Zocken an der Börse sei in vielerlei Hinsicht ähnlich wie das Zocken am Automaten oder in der Spielbank: Die hohe „Ereignisfrequenz“ – schnelle Entscheidungen, große Gewinnchancen – lösten euphorische Gefühle aus, die man immer wieder haben will. Und wie bei allen Süchten weigern sich die Betroffenen lange Zeit zuzugeben, dass etwas nicht stimmt. Fast immer sind es daher die Angehörigen, meist die Ehefrauen, die den ersten Schritt tun und professionelle Hilfe suchen.

US-amerikanische Studien – deutsche gibt es noch nicht – haben ergeben, dass rund zehn Prozent aller Investmentbanker und zwei Prozent aller Privatanleger „börsensüchtig“ sind. Ein deutliches Anzeichen sei, wenn jemand nicht offen zu seinen Verlusten steht, sie verschweigt oder gar vertuscht. „Aktienspekulationen sind ein Risikogeschäft, das ist allgemein bekannt“, sagt Otto, „wer souverän ist, kann auch dazu stehen, verloren zu haben.“ Wenn aber jemand mit schwacher Persönlichkeit sich durch dicke Portfolios Selbstwertgefühl und soziale Anerkennung erkauft hat, dann folgt aus dem Verlust viel mehr als rote Zahlen auf dem Bankauszug: aus dem großen Zampano ist wieder eine Null geworden.

Wichtig ist daher – neben der finanziellen Konsolidierung – die eigene Persönlichkeit zu stärken, wieder mehr Zeit in Beziehungen zu „investieren“, offen mit sich selbst, der Familie, den Freunden umzugehen. Keinesfalls sollte man glauben, durch den erlittenen Reinfall jetzt „geheilt“ zu sein, warnt Otto: „Dieses euphorische Gefühl hat sich eingebrannt. Wer nicht an der eigenen Persönlichkeit arbeitet, ist beim kleinsten Hoffnungsschimmer wieder dabei.“ Etwas Gutes hat die dümpelnde Börse aber dennoch: „Die Gefahr, dass noch mehr Menschen börsensüchtig werden, ist derzeit ziemlich gering.“

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 1. März 2003 in der Rubrik Lebenslagen, erschienen in der Ausgabe .

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Dr. Antje Schrupp ist geschäftsführende Redakteurin von Evangelisches Frankfurt. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com.