Von Zeit zu Zeit überfallen mich Erinnerungen, wenn ich mich mit Situationen in der Gemeinde auseinander setzen muss. Jetzt, wo die Kirchenvorstandswahlen vorbereitet werden, ist mir das immer wieder passiert: Erinnerungen an die Gemeinden, die ich erlebt habe, haben mich regelrecht gefangengenommen. Und die Frage, wie denn diese Gemeinden geleitet wurden, beschäftigt mich seither besonders.
Früher war das alles einfach für mich. Ich war römisch-katholisch und wuchs im Großfamilienhaushalt meiner Großmutter auf. Regelmäßiger Gottesdienstbesuch war Pflicht, und das nicht nur am Sonntag. Nach der Erstkommunion hatte ich mindestens zwei Mal die Woche morgens früh vor der Schule – und vor dem Frühstück – zur Messe zu gehen. Manches Mal war ich da mit dem Pfarrer und dem einen Ministranten, der Dienst hatte, in der ganzen großen Kirche allein. Wenn zwei oder drei in Jesu Geist beisammen sind, da ist Gemeinde, hatte ich gelernt. Aber ob diese Veranstaltung wirklich etwas mit Gottes Geist zu tun hatte, das fragte ich mich mit der Zeit immer mehr. Zum Glück befreiten mich meine Eltern aus diesem Zwang, die Schule ging vor und ich nicht mehr in die Frühmesse.
Jahre später nahm ich hier in Frankfurt an meinem ersten Evangelischen Kirchentag teil. Während auf dem Römerberg der Eröffnungsabend lief, feierte eine gedrängte Menge von Menschen in der Alten Nikolaikirche das politische Nachtgebet, das wir vorbereitet hatten. Die Atmosphäre in der Kirche kann ich kaum beschreiben: Spannung, Vergnügen, Genuss, die Freude, sich gegenseitig zu erkennen und gemeinsam einen Schritt auf dem richtigen Weg zu tun – alles das war da. Eine Leitung hatte diese Gemeinde nicht, nur ein paar bekannte Aushängeschilder, die immer wieder genannt wurden. Hier war Geist, war Gemeinschaft, Gemeinde, die weit über die Grenzen dieses Abends zusammenhielt, lange Jahre.
Wieder Jahre später hatte ich das Glück, in Chile einen Gottesdienst besuchen zu können zum Gedenken an die Verschwundenen und Ermordeten unter der Diktatur Pinochets. Als Fürbitte wurde eine lange Reihe von Namen der Ermordeten verlesen, und die Gemeinde antwortete auf jeden Namen, mit Seufzen, mit Weinen, mit Rufen. Vor der Kirchentür warteten die Geheimdienstler, jeder wusste das. Diese Gemeinde konnte nur leben, weil sich alle auf die anderen verließen, weil sie Vertrauen schenkten auf Vorschuss. Es konnte auch jeder ein Verräter sein, oder unter der Folter reden und beschuldigen. Der Gottesdienst war nur die sichtbare Spitze der Arbeit, die alle im Verborgenen taten, eine Feier der Solidarität.
In der Zeit, in der ich in der Berufsschule Schulpfarrer war, experimentierten die Klassen häufig und heftig mit Okkult praktiken. Während einer Fahrt beschwor eine Klasse eine ganze Nacht hindurch „die Geister“, und morgens früh waren sie völlig fertig und tief verwirrt. Da gelang es zum ersten und einzigen Mal, einen stillen Gebetskreis in der Kapelle zu initiieren, eine Zeit, in der sich alle wieder fingen, sich gegenseitig festhielten, sich vor dem Abdriften schützten. Und um Hilfe baten.
Alle diese und noch manche Gelegenheiten mehr haben mich gelehrt, Gemeinde als Ereignis wahrzunehmen. Es gibt sie nicht, die Gemeinde, nicht einfach so; nicht in „Gemeindegrenzen“, nicht in formali sierbaren Aktionen, nicht in bestimmten Gebäuden. Gemeinde wächst plötzlich, erscheint und verschwindet wieder, lässt sich nicht vorhersehen und deshalb auch nicht erzwingen.
Gemeinde geschieht. Leitung heißt, dieses Geschehen zu ermöglichen.