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Aktuell

Von – 1. Juli 2003

Wohin wollen Sie eigentlich?

Die Urlaubszeit steht vor der Tür, die Koffer werden gepackt. Für die einen sind es die schönsten Wochen des Jahres, für andere das „Opium der Postmoderne“. Gedanken zum Unterwegssein.

Jürgen Lehwalder ist Pfarrer in der Bornheimer Johannisgemeinde. Foto: Oeser

Vom „wandernden Gottesvolk“ ist schon in der Bibel die Rede. Das Volk Israel war unterwegs ins verheißene, gelobte Land, begleitet und geführt von Gott. „Wir sind auf einer Reise aus einem Land der Versklavung in ein Land der Verheißung“ schreibt ein Rabbiner unserer Zeit, und diese Reise ist noch nicht zu Ende. Denn was auch immer man unter Versklavung versteht, „in jedem Fall ist es ein Ort oder ein Zeitraum, in dem unser Leben von anderen fremdbestimmt wird“.

Das Unterwegssein ist auch ein Wesensmerkmal der Kirche Jesu Christi. Wir sind noch nicht am Ziel, wir sind Suchende. Wir sind als Glaubende stets unterwegs und müssen immer wieder auf’s Neue Antworten finden auf die Frage, wie wir als Kirche, als Gemeinde unser Zusammenleben untereinander und in der Gesellschaft gestalten wollen. „Wohin wollen Sie eigentlich?“ – diese Frage stellte die evangelische Kirche letztes Jahr auf einer Plakatkampagne. Und es ist eine berechtigte Frage – an das Selbstverständnis von Kirche und Gemeinde und das jedes einzelnen Christen, jeder einzelnen Christin.

Auch in der Urlaubszeit sind jedes Jahr Millionen von Menschen unterwegs, vorzugsweise setzen sie sich von Nord nach Süd in Bewegung. „Wohin wollen Sie eigentlich?“ – das könnte jemand fragen, der sich an einem der Sommerreisetage irgendwo an eine Autobahn setzt, die nach Süden führt. Wobei die Frage auch wieder unsinnig ist, weil meist schon lange im Voraus entschieden wurde, wo die schönste Zeit des Jahres verbracht werden soll. Auto reiht sich an Auto, angefüllt mit der Hoffnung, dass die lange Fahrt auch in diesem Jahr gut geht, dass in den zwei oder drei Wochen die Harmonie, die zu Hause oft fehlt, endlich gelingen möge. Gleichsam magisch anziehend sind die Ziele irgendwo am Meer, irgendwo in der Sonne Italiens, Spaniens. Es sollen die schönsten Wochen des Jahres werden. So gesehen sind die Urlaubswochen durchaus eine Zeit der Verheißung.

„Wohin wollen sie eigentlich?“ – das könnte auch die verwunderte Frage eines unserer Vor- fahren sein. Denn Urlaub beziehungsweise Reisen sind Zauberworte erst seit kurzer Zeit. Über viele Jahrhunderte, ja Jahrtausende hinweg war nämlich das In-die-Fremde-Gehen nichts, was ein vernünftiger Mensch freiwillig auf sich genommen hätte. Nur die Mächtigen oder die Abenteurer, zwielichtiges Volk, Kaufleute und Soldaten zogen in der Welt herum, um ihre Geschäfte oder ihr Glück zu machen. Als glücklich galten aber diejenigen, die nicht durch Hunger zur Flucht oder durch einen Mächtigen der Geschichte gezwungen wurden, ihn bei seinen Entdeckungsreisen oder Feldzügen zu begleiten.

Eine Trendwende kam erst zu Goethes Zeit. Deutschlands Dichterfürst war einer der ersten Touristen im heutigen Sinn. Im September 1786 brach er nach Italien auf, wollte sich dort von den Anstrengungen seines Ministeramtes erholen, neue Kraft für die Arbeit an seinem literarischen Werk schöpfen. In Italien war er auf der Suche nach der Wiege abendländischer Kultur. Damit aber erhielt das Reisen einen neuen Sinn: Es diente der Erholung, dem Vergnügen und vor allem der Bildung. So wurde das Reisen – lange Zeit nur für einige wenige und dann für immer mehr Menschen – zum Urlaub, ohne den die meisten gar nicht mehr auskommen können. Psychologen sprechen sogar schon vom „Opium der Postmoderne“.

Aber vielleicht steckt hinter dem Unterwegssein, auch zu den ganz profanen Urlaubszielen, letztlich nichts anderes als die Sehnsucht nach gelingendem Leben, und das heißt: die Suche nach der Nähe zu Gott. Deshalb ist es gut, dass es das Reisen und den Urlaub gibt. Und jenen Gott, der uns auf unserer Suche entgegenkommt und uns in seiner schützenden Hand halten möge, wie es in einem irischen Reisesegen heißt: „Möge der Weg dir freundlich entgegenkommen, der Wind niemals gegen dich stehen, Sonnenschein dein Gesicht bräunen, Wärme dich erfüllen. Und bis wir beide uns wiedersehen, halte Gott dich schützend in seiner großen Hand.“

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 1. Juli 2003 in der Rubrik Gott & Glauben, erschienen in der Ausgabe .

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Jürgen Lehwalder ist Pfarrer in der Bornheimer Johannisgemeinde.