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Von – 1. Januar 2005

„Warum greift Gott nicht ein?“

„Wo warst du, lieber Gott?“ – so titelte eine Boulevardzeitung über dem Foto getöteter Kinder. Eine verständliche Frage. Hunderttausende Tote hat die Naturkatastrophe in Südasien gefordert. Wenn Gott wirklich allmächtig ist: Welche Entschuldigung für ihn kann es geben, dass er so etwas nicht verhindert?

Gunda Höppner ist Parrerin in Niederrad. Foto: Surrey

Ein Häufchen Elend kauert da im Dreck. Ein Mensch, gerade noch am Leben, um ihn herum Tote. Mit ungläubigen Augen starrt er in die Kamera, einen Arm ausgestreckt, den Rettern entgegen. Die Aufnahme ist 60 Jahre alt, entstanden bei der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen. Sie geht mir nicht mehr aus dem Sinn, und sie vermischt sich vor meinem inneren Auge mit den Bildern aus den Katastrophengebieten Südostasiens nach der Flutwelle.

Und die Frage ist da: Kann ich noch vom „lieben Gott“ sprechen? Wie kann ich jetzt überhaupt noch von Gott sprechen? Bertolt Brecht hat nach 1945 eine seiner Figuren diese Frage stellen lassen. „Wie konnte Gott das zulassen?“ – „Gott? Den gibt es doch nicht“, antwortet ein anderer. Darauf der erste: „Das ist seine einzige Entschuldigung!“ Darin fasst er das Lebensgefühl der modernen Zeit zusammen: Die einzige Theodizee Gottes (Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen und des Leidens in der Welt) ist seine Nichtexistenz. „Gott ist tot, er ist in Auschwitz gestorben“, war die Antwort von Angehörigen der Ermordeten auf die Frage nach ihrem Glauben an Gott.

Wenn ich an die Überlebenden des Holocaust und der Flut denke, will ich Fragen, Anklagen und bruchstückhafte Gebete an den Gott richten, an den ich immer noch glaube. Und ich will verstehen, wie Aceh und Auschwitz, alles vernichtende Gewalt der Natur und alles vernichtende Gewalt von Menschen möglich sind, wenn Gott der Schöpfer der Welt und, wie das Neue Testament bezeugt, die Liebe ist. Entweder will Gott uns Menschen helfen, und er kann es nicht. Dann ist er nicht allmächtig. Kann er dann noch Gott sein? Oder er kann uns helfen, will es aber nicht. Dann kann er nicht gut sein. Warum beseitigt er nicht mit einem Schlag alles Leid? Warum lässt er Menschen sterben, lange vor der Zeit? Als Antwort auf diese Fragen schrieb Gottfried Wilhelm Leibniz 1710 sein „Essai de Théodicée“: Die von Gott geschaffene Erde sei zwar „die beste aller möglichen Welten“, da aber der Mensch ein freies Wesen ist, kommen durch seine Taten auch Leid und Sünde in die Welt.

Die Antwort auf das Leiden in der Welt scheint also letztlich zu sein: Selber schuld. Als Theologin und als Mensch kann ich diese Antwort nicht akzeptieren. Sie verbietet sich mir nicht erst seit dem hundertausendfachen Tod der Menschen, die in tsunamigefährdeten Gebieten gesiedelt haben, um vom Fischfang zu leben. Sie verbietet sich mir auch nicht erst seit dem millionenfachen Tod der europäischen Jüdinnen und Juden in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis und dem vielhundertmillionenfachen Hungertod von Menschen, obwohl weltweit genug Nahrungsmittel erzeugt werden, um alle zu ernähren. Selber schuld? Diese Antwort verbietet sich mir schon, wenn nur ein Mensch unschuldig und vor der Zeit stirbt. „Wenn ein Unschuldiger getötet wird, dann wird die ganze Welt getötet“, sagt die Tradition des rabbinischen Judentums.

Gibt es also eine Rechtfertigung Gottes außer der, dass es ihn nicht gibt? Der christliche Glaube sagt: Ja. Und diese Rechtfertigung trägt ein menschliches Gesicht: Jesus von Nazareth. In ihm ist Gott aus Liebe Mensch geworden, damit wir menschlich werden. Aber indem er Mensch wurde, hat Gott auch Macht aus der Hand gegeben: Macht, Naturgesetze außer Kraft zu setzen, Menschenschlächter von der politischen Macht fernzuhalten, Kinderschänder von ihrer nächsten Untat und auch die Macht, aus den Steinen der sudanesischen Provinz Darfur Brot zu machen.

Dafür hat Gott uns in die Verantwortung genommen. Die Naturgesetze können auch wir nicht ohne Folgen missachten. Aber wir können Leiden und vorzeitigen Tod zurückdrängen – ein Tsunami-Frühwarnsystem ist durch Forschung und Entwicklung möglich, und es gibt Solidarität und Hilfe, obwohl es für viele in Deutschland finanziell enger geworden ist. Steine können auch wir nicht in Brot verwandeln. Aber wir können lernen, Reichtum zu teilen, und am Glauben an den Gott festhalten, der die Liebe ist, auch wenn sie durch menschliche Gräuel verdunkelt wird. Dazu ermutigt mich die Inschrift im Warschauer Ghetto: „Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint. Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht spüre. Ich glaube an Gott, auch wenn ich ihn nicht sehe.“

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 1. Januar 2005 in der Rubrik Gott & Glauben, erschienen in der Ausgabe .

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Gunda Höppner ist Pfarrerin in Niederrad.