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Aktuell

1. September 2008

Alle Welt in einer Schule

p(einleitung). Wenn im Reli-Unterricht die Fetzen fliegen, dann nicht zwischen den verschiedenen Religionen, sondern zwischen den Frommen und denen, die es eher locker sehen. Aber auch das kann sich von Tag zu Tag ändern.

!(rechts)2008/09/seite07_rechts.jpg(Volker Rahn ist Schulpfarrer an der Klingerschule. | Foto: Rolf Oeser)!

Warum zieht es die Menschen bloß immer wieder in die Ferne? Womöglich müssen sie einfach unterwegs sein. Tausende von Jahren waren Menschen auf der Suche nach Land und Nahrung oder auf der Flucht vor Hunger und Gewalt. Heute geht es dem reisenden Mitteleuropäer vor allem darum, Erfahrung zu sammeln: Reisen bildet. Vielleicht ist es aber auch die Suche nach neuen Wegen, um am Ende nichts weniger und nichts mehr als sich selbst zu finden.

Ich selbst mache mich werktags jeden morgen zu einer Reise auf; es ist es sogar eine richtige kleine Weltreise. Als Schulpfarrer an einer Berufsschule in Frankfurts City begegne ich Schülerinnen und Schülern, deren familiäre Wurzeln in über hundert verschiedenen Ländern liegen.

Auch sie sind Reisende. Im Unterricht treffen sie sich, und mit ihnen die großen Weltreligionen. Was sie trennt, ist aber gerade nicht ihre Religionszugehörigkeit. Die Fetzen fliegen in den Schulstunden vor allem zwischen Schülerinnen und Schülern derselben Glaubensrichtung, nämlich zwischen denen, die es eher locker mit dem Glauben nehmen, und jenen, die streng an ihm festhalten. Wobei nicht immer ausgemacht ist, wer an einem bestimmten Tag gerade einmal fromm und an einem anderen wieder weltoffen gestimmt ist. Vergangene Woche trug die muslimische Schülerin noch aus Überzeugung ein Kopftuch, heute hat sie es abgelegt, weil sie „einfach keine Lust“ mehr darauf hatte.

!(rechts)2008/09/seite07_unten.jpg(An Frankfurter Schulen lernen Kinder aus Hunderten von Nationen gemeinsam – hier Jungen beim Kicken auf dem Schulhof der Weißfrauenschule. | Foto: Rolf Oeser)!

Das Ganze geht natürlich auch umgekehrt. Lehrbücher und Lexika helfen, so in etwa die religiösen Schubladen zu erwischen, in die man jemanden stecken kann. Doch jeder Mensch bleibt ein Einzelfall, was ganz besonders in religiösen Dingen gilt. Und so fließen in der Praxis die Grenzen, wie auch sonst im 21. Jahrhundert alles in Bewegung ist. Sicher ist, dass in Fragen des Glaubens derzeit nichts wirklich sicher ist.

Auch nicht die Antwort darauf, warum Schülerinnen und Schüler aus anderen Kulturen ausgerechnet in den evangelischen Religionsunterricht strömen und ihn mitunter dem weltanschaulich neutralen Ethikunterricht vorziehen. Womöglich liegt es an den komplizierten philosophischen Texten, die auf dem Ethik-Lehrplan stehen. Eventuell auch an dem Ruf, der dem Religionsunterricht vorauseilt, immer ein wenig gnädigere Noten zu verteilen. Vielleicht ist es aber auch ganz einfach das tiefe Bewusstsein dafür, dass es in der Religion um mehr als die Welt geht.

Ich weiß nicht, was Philipp Melanchthon zum Religionsunterricht anno 2008 gesagt hätte. Melanchthon war nicht nur die rechte Hand Martin Luthers, sondern vor gut 500 Jahren auch einer der bedeutendsten Schulreformer. Bildung gehörte für ihn zum Menschsein, deshalb sollte sie allen zukommen. Wie kein Zweiter warb er für die Gründung neuer Lehranstalten.

Seitdem ist Bildung ein Grundthema der evangelischen Kirche. Die Schule und ihr Religionsunterricht sind wie ein Radar, das die gesellschaftliche und religiöse Zukunft im Voraus abbildet. Was hier gelingt, hat auch in zwei Jahrzehnten gesellschaftlichen Bestand; was schiefgeht, wird wahrscheinlich auch die kommenden Jahrzehnte Politik und Kirche in Atem halten.

Heute geht es natürlich im Religionsunterricht nicht mehr allein um das Griechischstudium, das der Reformator Melanchthon so sehr liebte. Es geht auch nicht ums Pauken und Abkanzeln, sondern um das Akzeptieren-Lernen, Aufklären-Versuchen, Vermitteln-Helfen, Standpunkte-beziehen-Können. Im Religionsunterricht wird das jeden Schultag aufs Neue eingeübt. Es ist oft ein dornenreicher Weg. Doch für die Kirche ist es unverzichtbar, hier hautnah dabei zu sein – als Schülerin. Es ergeht ihr am Ende womöglich wie bei einer richtigen Reise: Das Neuland wirft sie zurück auf sich selbst und führt sie auf ureigenstes Terrain.

p(autor). Volker Rahn

Artikelinformationen

Beitrag veröffentlicht am 1. September 2008 in der Rubrik Gott & Glauben, erschienen in der Ausgabe .

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