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Aktuell

Von – 1. Mai 2010

Wo Ali und Nilofar sich einigen müssen

Hier wird Integration konkret: In Jugendhäusern wie dem in Sossenheim ist das Zusammenleben der Kulturen, Religionen und Nationalitäten nicht nur ein Schlagwort.

Franziska rührt hingebungsvoll die Zutaten für den Nudelauflauf in der großen flachen Aluminiumpfanne um und belegt sie mit ganzen Käsescheiben. Sie steht in der Stahlküche des evangelischen Jugendhauses Sossenheim, in der nachmittags oft gekocht wird. „Ich liebe Kochen“, sagt die Fünfzehnjährige, die in Sossenheim aufgewachsen ist, deren Eltern aber aus Rumänien kommen.

Nicht lange Beratungsgespräche, sondern verlässliche Beziehungen sind für die Jugendlichen wichtig: Sozialarbeiterin Susanne Lonauer spielt mit einer Jugendlichen Backgammon. Foto: Ilona Surrey

Die Küche geht in einen großen Aufenthaltsraum über, der in warmen gelb-orange-roten Tönen bemalt ist. Die Künstlerin Nicole Wächtler hat die Räume vor einigen Jahren zusammen mit Jugendlichen gestaltet. „Seitdem werden die Wände in Ehren gehalten“, erzählt Anton Gazic, seit zehn Jahren Sozialarbeiter im Haus. „Da kritzelt keiner drauf.“

Aus den Lautsprechern tönt Rap-Musik. Lidia, Maartyna und Jessica proben ein paar Tanzschritte. Im hinteren Teil des Raumes toben sich Daniel aus Eritrea und Mohammed aus Marokko beim Ping-Pong aus. Eine Gruppe Jungen schaut am Computer Youtube-Videos und lacht. Ständig pulsieren Geräusche. Kushtrim, Kosovo-Albaner, stürmt durch die Tür: „Ey, was geht ab?“ begrüßt er alle mit Handschlag.

„Die Nationalität spielt hier keine Rolle“, erzählt Anton. „Manchmal ziehen die Jugendlichen sich gegenseitig damit auf, aber das ist nur spielerisch. Was zählt, sind Freundschaften und Cliquen wie es in der Pubertät normal ist. Und die entstehen über die Nationalität hinweg.“

Das war nicht immer so. Vor einigen Jahren wurden Sinti und Roma ausgegrenzt. „Bei uns spiegelt sich wider, was im Stadtteil passiert“, erklärt der Sozialarbeiter. „Aber wir leben den Jugendlichen angemessenes Verhalten vor und erwarten von ihnen dann auch, dass sie sich höflich und mit Respekt begegnen. Wir haben damals auch viel diskutiert. So hat sich das aufgelöst.“

Muskelaufbau im Trainingsraum: Den schätzen vor allem die männlichen Besucher im Jugendhaus Sossenheim. Foto: Ilona Surrey

Ali, dessen weißes Unterhemd seine Armmuskeln betont, stürmt aus dem Fitnessraum und will einen anderen Song am Computer anklicken. „Hey, das geht nicht!“ sagt Anton. „Nilofar hat sich gerade etwas ausgesucht.“ „Aber ich muss trainieren“, schimpft Ali und wird laut. Anton beschwichtigt ihn „Du musst dich mit Nilofar einigen“, sagt er bestimmt, Und die Zwölfjährige will ihr Lied noch zu Ende hören.

„Die Mädchen können sich hier nicht nur am Mädchentag, sondern auch an allen anderen Tagen frei bewegen“, betont die Sozialpädagogin Susanne Lonauer. Sie hat schon in einigen Frankfurter Jugendhäusern gearbeitet, wo die Situation deutlich angespannter war. „Die Jungens haben im Grunde mehr Bedarf“, meint ihr Kollege Jan Reiter. „Sie sind meist die schulischen Verlierer.“

Sossenheim ist geprägt von zwei Hochhaussiedlungen. Viele Familien hier leben von Sozialhilfe. Manche Jugendliche fetzen sich mit ihren Eltern, andere erleben Gleichgültigkeit. Bei schulischen Problemen sind die meisten auf sich gestellt. Im Jugendhaus gibt es auch einen Hausaufgabenraum, in dem es ruhig ist. „Nachhilfe geben können wir nicht, aber wir helfen bei den Hausaufgaben“, erklärt Reiter. Er gibt auch Tipps zur Berufsorientierung, meist zwischen Tür und Angel. „Wichtig sind nicht lange Gespräche, sondern dass man eine Beziehung zu den Jugendlichen hat: Achtzig Prozent sind Stammpublikum, und ich kenne sie mit Namen.“

Von sechs bis zehn Uhr abends dürfen auch die Älteren ins Jugendhaus. „Wenn es spät wird, schlafen manche vor dem Fernseher auf dem Sofa ein“, erzählt Susanne Lonauer. „Da muss man sich doch schon zuhause fühlen, oder?“

„Anerkennung und Vertrauen in die Jugendlichen“

Pfarrer Jürgen Mattis ist in der evangelischen Kirche in Frankfurt für die Jugendarbeit zuständig. Foto: Ilona Surrey

Warum halten Jugendliche sich in Jugendhäusern an Regeln, während draußen oft andere Gesetze gelten?

Weil das Einüben von Anerkennung und auch Vertrauen in die Jugendlichen dort an erster Stelle steht. Gemeinsamer Sport ist ein ideales Erfahrungsfeld. Ein Beispiel: Mitte der neunziger Jahre gab es in Bornheim gewalttätige Auseinandersetzungen von national bestimmten Jugendgruppen wie den „Türkisch Power Boys“. Unserem Jugendhaus am Heideplatz gelang es, die Rivalitäten zunächst in Streetballturnieren mit den Gruppen nach Regeln des Fairplay zu kultivieren.

Wie funktioniert die Integration von Mädchen und Jungen?

Wenn etwa die 16-jährige Muslima ins Jugendhaus kommt und Party machen möchte, kann es passieren, dass ihr 18-jähriger Bruder zur Leitung geht und sagt: Meine Eltern und unsere Religion erlauben das nicht. Aber wir sind diesem Mädchen gegenüber verpflichtet: Sie darf in unserem Jugendhaus als selbstbestimmte Person entscheiden. Unsere Mitarbeiter versuchen dann, den Dialog zwischen Bruder und Schwester zu fördern, das Mädchen zu unterstützen, den Dialog mit den Eltern aufzunehmen.

Gelingt das?

Nicht immer. Einige muslimische Mädchen, die sich in einer unserer Mädcheneinrichtungen aufs Abitur vorbereiten, haben mir auf meine Frage nach ihren größten Zukunftsängsten geantwortet: mit Männern verheiratet zu werden, die sind wie ihre Brüder. Gerade in den Fragen der Geschlechterrollen sind die kulturellen Unverständnisse doch gravierend.

Seit wann gibt es Integrationsbemühungen in der evangelischen Jugendarbeit?

Wir haben seit über dreißig Jahren Erfahrung damit. „Internationales Kinderhaus“ heißt eine unserer frühen Einrichtungen. Es wurde im Frankfurter Bahnhofsviertel eröffnet, einem schon in den siebziger Jahren sehr multikulturellen Stadtteil.

Welches Selbstverständnis steht hinter der Arbeit in evangelischen Kinder- und Jugendhäusern?

Jedes Kind, jeder Jugendliche ist in seiner jeweiligen Individualität eine von Gott geliebte und angenommene Person und hat also, modern gesprochen, das Recht auf Anerkennung. Diese Erfahrung sollen junge Menschen machen. Das ist der Ausgangspunkt unserer pädagogischen Arbeit.

Was wünschen Sie sich vom neuen Integrations- und Diversitätskonzept der Stadt?

Dass es sein Hauptziel erreicht und die Menschen in Frankfurt gewinnt, sich von der Lust auf Integration anstecken zu lassen. Es geht ja um die Qualität des Zusammenlebens in der Stadt. Es ist doch wunderbar, die kulturelle Vielfalt unserer Mitmenschen zu entdecken und sich selbst weiter zu entwickeln.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 1. Mai 2010 in der Rubrik Ethik, Menschen, erschienen in der Ausgabe .

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Stephanie von Selchow ist Redakteurin von "Evangelisches Frankfurt".