Pröpstin: Kein Zwang zur Selbst-Optimierung
„In unserer Gesellschaft hat sich die Sichtweise weitgehend durchgesetzt, dass die Menschen ganz allein für ihr Leben verantwortlich sind“, kritisierte Pröpstin Gabriele Scherle bei ihrer Predigt zum Buß- und Bettag in der Katharinenkirche. „Wer es zu nichts bringt, hat seine Ressourcen schlecht genutzt, wer erschöpft ist, hat sich schlecht gemanagt.“ Dies widerspreche der christlichen Botschaft: „Gott ist allen Menschen gleich nah“.
Der Buß- und Bettag, der 1532 in Straßburg erstmals gefeiert wurde, sei damals ein Appell an die Menschen gewesen, mehr Verantwortung zu übernehmen. Am Ausgang des Mittelalters sei das eine „Aufwertung der Menschen“ gewesen, so Scherle: Ihre Person, ihre Individualität sollten zählen, nicht der Stand. Doch damit sei nicht die heutige Idee der „Ich-AG“ gemeint gewesen. „Wir müssen uns nicht vermarkten“, stellte Scherle klar.
Die Pröpstin kritisierte, dass heute sogar Gott zuweilen für das Projekt der Selbst-Optimierung instrumentalisiert werde: „Wer es nicht packt, dem wird gesagt, es mangele an spiritueller Kompetenz.“ Doch Frömmigkeit sei etwas anderes: „Dass wir uns als Geschenk Gottes erkennen, als Menschen, die geliebt sind, auch wenn wir nur begrenzt leistungsfähig sind.“