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Von – 1. Februar 2011

Von den Nachbarn denunziert

Frankfurter Gemeinden beschäftigen sich mit der NS-Geschichte

Gebanntes Schweigen. Rund zwanzig Konfirmandinnen und Konfirmanden hören genau zu, als Marlies Flesch-Thebesius, geboren 1920 in Sachsenhausen, von ihren Erfahrungen im „Dritten Reich“ erzählt. Zuerst von ihrem Vater, der als sogenannter „Halbjude“ kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht mehr als Chirurg in einem evangelischen Krankenhaus arbeiten durfte. Sie schildert, wie er und seine Familie, also auch sie selbst, plötzlich von den bis dahin befreundeten anderen Arztfamilien geschnitten wurden. Wie ihr Vater unter dem Druck und vor Angst ein Magengeschwür bekam, von dem er sich lange nicht erholte. Die heute Neunzigjährige berichtet aber auch, dass Martin Schmidt, der damalige Pfarrer der Dreikönigsgemeinde, sich für die Aufhebung des Berufsverbots ihres Vaters einsetzte. Und sie erzählt von ihrer eigenen Angst und Erleichterung im April 1945: „Da hatte ich das Gefühl, den Wettlauf gegen Hitler gewonnen zu haben.“

Jugendliche zünden bei einem Gedenkgottesdienst in der Sachsenhäuser Dreikönigskirche Kerzen an für Gemeindemitglieder, die im Nationalsozialismus wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt und ermordet wurden. Foto: Rolf Oeser

Zuvor hatten sich die Jugendlichen mit drei Lebensläufen von Christinnen und Christen jüdischer Herkunft beschäftigt, die in der Zeit der NS-Diktatur zur Dreikönigsgemeinde gehörten: Sie waren von einer Arbeitsgruppe der Gemeinde zusammengetragen worden, die die Tauf- und Konfirmationsbücher durchforstet hat.

Sara wird schlagartig klar, dass man „gar keine Identität mehr besitzt“, wenn man, wie etwa Albert Katzenenellenbogen, der ehemalige Direktor der Frankfurter Commerzbank, unter einer Nummer, der Transportnummer „Bc-942“, in die Nähe des Ghettos Minsk verschleppt wird. Fritz dagegen kann nicht begreifen, aus welchem Grund die Nachbarn Margarete Lehr wiederholt denunzierten, deren einziges „Verbrechen“ darin bestand, eine jüdische Mutter zu haben. Fast unvorstellbar ist es für heutige Jugendliche, wie Menschen jüdischer Herkunft damals verraten, schikaniert und ermordet wurden. Grund genug, sie auch in den Gedenkgottesdienst mit einzubeziehen, den Pfarrer Martin Vorländer Ende Januar mit einer Arbeitsgruppe der Gemeinde gestaltet hat. Auch die Petersgemeinde im Nordend erinnerte an frühere Gemeindemitglieder, die damals verfolgt wurden. Das Material für diese intensive Auseinandersetzung von Gemeinden mit der Geschichte hat ein wissenschaftliches Projekt der evangelischen Kirchen in Hessen zur Erforschung des Schicksals von Christen und Christinnen jüdischer Herkunft beigetragen.

In der Dreikönigskirche verlesen die Jugendlichen auch die Biographien von Margarete Lehr und ihrer jüdischen Mutter Klara, den Lebensweg der evangelisch getauften „Volljüdin“ Friedel Garbe, die nicht mehr Lehrerin sein durfte, und der Familie Katzenellenbogen. Sie nennen die Namen von zwanzig weiteren Opfern des Nationalsozialismus, die damals zur Dreikönigsgemeinde gehörten, und zünden Kerzen für sie an. Im Mittelpunkt der Predigt steht ein Satz des Apostels Paulus: „Denn ihr seid alle Gottes Kinder durch den Glauben an Christus Jesus. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Knecht noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid alle eins in Christus Jesus.“

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 1. Februar 2011 in der Rubrik Stadtkirche, erschienen in der Ausgabe .

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Stephanie von Selchow ist Redakteurin von "Evangelisches Frankfurt".