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Von – 17. März 2011

Gänseblümchen pflücken

In der Passionszeit zwischen Aschermittwoch und Ostern erinnern sich Christen und Christinnen an das Leiden Jesu. Doch welche ­Bedeutung kann das Unrecht, das Jesus widerfahren ist, für Menschen haben, die selbst Opfer von Gewalt geworden sind?

Kristina Augst war fünf Jahre lang Schulpfarrerin an der Gutenbergschule und ist zur Zeit im Vertretungsdienst. Foto: Rolf Oeser

Wenn jetzt die ersten Gänseblümchen blühen, denke ich immer an eine Geschichte, die mir einmal eine Schülerin anvertraute. Sie handelt von Passion und Ostern, von sexualisierter Gewalt und von Gänseblümchen.

Als das Mädchen (lassen Sie es uns Jana nennen) dreieinhalb Jahre alt war, wurde sie von ihrem Vater sexuell missbraucht. Als junge Erwachsene erzählte mir Jana ihre Geschichte so: „Ich erinnere mich, dass es ein milder, sonniger Tag war. Mein Vater betritt mein Zimmer. Er drückt mich auf das Sofa, ich spüre den rauen Stoff auf meiner Haut. Doch dann passiert etwas Merkwürdiges. Bevor der Schmerz mich völlig überwältigt, kommt eine große Hand und nimmt meine Seele mit. Ich kann mich nicht erinnern, ob zu der Hand auch ein Gesicht gehört, es ist so eine Hand, wie meine Großmutter sie hatte, wenn sie mich nachts berührte, wenn ich nicht einschlafen konnte. Wir gehen zu einer Wiese mit Gänseblümchen, jeder Menge Gänseblümchen. Ich mag diese kleinen Blumen mit der gelben Mitte und den winzigen weißen Blütenblättern. Darum pflücke ich ein Sträußchen. Und weil ich immer denke: Dort drüben die Blumen sind noch viel saftiger als hier, springe ich von Fleck zu Fleck und sammele die allerschönsten. Währenddessen ist mein Rücken dem Geschehen im Kinderzimmer zugewandt. Irgendwie passte jemand auf mich auf, sodass ich nicht hinsehen musste, und die Hand brachte mich auch immer erst nach Hause, nachdem das Schlimmste passiert war.“

Nach einigen Momenten des Schweigens ergänzt sie: „Wenn es diese Wiese mit den Blumen nicht gegeben hätte, wäre ich wahnsinnig geworden, dann hätte ich nicht überlebt.“

Ich habe oft über Janas Schilderung nachgedacht. Sie ist berührend und verstörend zugleich. Darin kommt zum Ausdruck, was Heilung und Heil angesichts von sehr großem Leid und Unrecht sein kann. Und sie spricht in einer Art und Weise davon, die unvertraut ist. Offenbar, so lerne ich, kann Heil und Heil-Werden den Menschen in unterschiedlicher Gestalt begegnen. In Janas Geschichte ist es die Hand, die sie an die Hand der Großmutter erinnert. Offensichtlich stoppt sie nicht die Gewalttat oder den Täter. Vermutlich könnte sie das auch gar nicht. Aber gleichzeitig ist es eine Macht, die stark ist und die Seele des Mädchens schützt.

„Irgendwie passte jemand auf mich auf“ – Menschen, die Opfer von Gewalt werden, erleben Heil und Heilung auf sehr unterschiedliche Weise. Foto: Eléonore H / Fotolia.com

Auch sonst hat Jana oft die Gegenwart eines anderen Menschen, einer anderen Macht betont. Die zugewandte Gegenwärtigkeit einer anderen Person ist heilsam. Dabei geht es aber nicht darum, vermeintlich tröstende Worte zu sprechen. Jana hat sogar eine regelrechte Allergie gegen den Versuch entwickelt, schlimmen Erfahrungen noch etwas Sinnvolles abgewinnen zu wollen. Richtig wütend wird sie, wenn man versucht, ihr den Kreuzestod Jesu als heilsnotwendig zu erklären. „Verstehen Sie mich nicht falsch“, sagte sie einmal zu mir, „ich sehne mich nach Heil und Heil-Werden, mehr als viele fromme Menschen. Aber dafür brauche ich nicht das Leid eines anderen Menschen. Jesu Tod, seine Qualen – ich weiß wirklich nicht, wie mich das heilen sollte. Das tröstet mich nicht, das wärmt mich nicht, das gibt mir keine Hoffnung.“

Nicht dass Jana etwas gegen Jesus hätte. Sie bewundert seine Gradlinigkeit, sein Eintreten für Gerechtigkeit und Frieden, seinen Widerstand gegen Unrecht. Das gibt ihr Kraft. Kraft schöpft sie auch aus der Auferstehung, denn die bedeutet: Tod und Gewalt, Folter und Unrecht haben nicht das letzte Wort. Es gibt eine Macht, die durch Leid und Tod hindurch trägt – so, wie sie das selbst erfahren hat.

Jana gefällt auch, dass Jesus nach der Auferstehung seine Wundmale noch hat. Die Spuren, die die Gewalt hinterlässt, verschwinden nicht, auch nicht nach der Heilung. Das findet sie realistisch. So geht es ihr schließlich auch. Und sie denkt sich: „Vielleicht hat Jesus nach seiner Auferstehung vor Freude über das Leben Gänseblümchen gepflückt!“

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 17. März 2011 in der Rubrik Gott & Glauben, erschienen in der Ausgabe .

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Kristina Augst war fünf Jahre lang Schulpfarrerin an der Gutenbergschule und ist zur Zeit im Vertretungsdienst.