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Von – 17. März 2011

Selbstversuch: Ein halbes Jahr offline

Alex Rühle erzählt in der Stadtakademie von seinem Leben ohne Internet

Die Entscheidung, eine Zeitlang ohne Internet zu leben, fällt Alex Rühle im Urlaub. Denn heimlich seilt er sich dort mehrmals täglich von Frau und Kindern ab, um „nur mal schnell die Nachrichten zu checken“. Sein Blackberry trägt er in der Brusttasche, und das plötzliche Vibrieren des Geräts bei Anrufen und Nachrichten ist wie ein freudig-erwartungsvoller Adrenalin-Stoß. Mit solchen Geschichten stimmt Alex Rühle sein Publikum in der Evangelischen Stadtakademie ein. Der Berliner Journalist und passionierte Internet- und Handynutzer hat ein halbes Jahr lang digital „gefastet“, also auf Internet und Handy verzichtet. Seine Erfahrungen und Erlebnisse in dieser Zeit hat er in seinem Buch „Ohne Netz“ aufgeschrieben.

Rühle ist Mitte vierzig, er weiß also noch, wie es ist, einen Computer im Schneckentempo hochzufahren oder zum Telefonieren in einer zugigen Telefonzelle zu stehen. Er hat es miterlebt, als die neuen Medien die Kommunikation und den Alltag veränderten. Und er liebte es. Bis er dann wissen will, ob er auch noch ohne das alles zurechtkommt.

Die Lesung ist vor allem eines – lustig und ertappend. Es gibt viel zu lachen. Manche erkennen sich etwas peinlich berührt in Rühles Verhalten selbst wieder, andere, eher Ältere, sind fasziniert von dem jugendlich wirkenden Großstadtneurotiker, der selbstironisch von seiner sechsmonatigen Auszeit von der digitalen Welt berichtet.

Zu Beginn des Experiments lässt Rühle sich hochoffiziell unter Zeugen zu Hause den Internet- und E-Mailzugang sperren und gibt sein Handy ab. Im Büro begrüßt ihn der EDV-Kollege, der ihn von den Zugängen zur digitalen Welt trennen soll, mit den Worten „Ach, Sie sind der Verrückte!“ Am Anfang sei es schwer gewesen, gibt Rühle zu. Er fühlte sich unvollständig, unangenehm leer.

Und es gab einige Veränderungen, privat und beruflich. Empfand er vorher gelegentliche Besuche von Kollegen in seinem Büro eher als „Heimsuchung“, so ertappt er sich jetzt selbst dabei, wie er dem Praktikanten ein Schwätzchen aufdrängt. Irritationen gibt es auch, wenn er beim Recherchieren die Interviewpartner zum fünften Mal den Vor- und Nachnamen buchstabieren lässt. Sie wissen ja nicht, dass er das nachher nicht einfach googeln kann. Ob Wetternachrichten oder Arztsuche, alles gestaltet sich ohne Internet umständlich und aufwändig.

Aber er gewinnt auch viel. Vor allem Zeit für sich, die Familie und Freunde. Er kommt zum Bücherlesen und Klavierspielen. Früher, wenn er „nur mal kurz was googeln“ wollte, „war es plötzlich auch schon Zeit, ins Bett zu gehen“. Die Kontrolle zu behalten, bewusst zu sein auch im Umgang mit Medien, das sei wichtig.

Doch ist Rühle durch sein Experiment nicht zum Internetgegner geworden. Er glaubt nicht, dass die Menschen früher intensivere Beziehungen hatten oder dass die Jugendlichen heutzutage oberflächlicher sind. Er findet auch nicht, dass Mails per se unverbindlich und Briefe per se tiefgründig sind. Doch Suchtmerkmale wie „Phantomsurren“ in der Tasche auch ohne Handy findet er bedenkenswert. Das Leitmotiv des Internet-Junkies sei die „Aufmerksamkeits-Zerstäubung“, das permanente lustvolle Verschränktsein zwischen Surfen, Mailslesen, Arbeiten und Angry-Birds-Spielen. Das versuche er heute zu vermeiden. Zu glauben, das sei kein Problem, hält Rühle für naiv.

In einer Schule hat er mit so genannten „Digital Natives“, jungen Menschen unter 25, die mit dem Internet aufgewachsen sind, über das Thema gesprochen. Seine Eindrücke sind gemischt: „Es ist schön, zu Hause zu sein und trotzdem bei allen anderen“, sagte ein Mädchen. Ein anderes gibt zu, nur noch mit Handtasche zu joggen, damit das Handy mitkann. „Die schlimmste Strafe für die Jugendlichen ist es, das Handy weggenommen zu bekommen“, sagt der Lehrer. Die Schüler lachen. „So einen großen Schrank hat der doch gar nicht!“ Die Jugendlichen verstehen Alex Rühles Experiment nicht, weil für sie ein Leben ohne Internet gar nicht vorstellbar ist. Die Alten auch nicht, weil sie schon ihr ganzes Leben lang offline sind.

Alex Rühle selbst ist mittlerweile wieder online. Doch seit seinem Internet-Fasten haben sich ein paar Dinge geändert. Akustische Benachrichtigungen zum Beispiel hat er komplett abgestellt. Und Mails bleiben auch mal eine zeitlang ungelesen.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 17. März 2011 in der Rubrik Stadtkirche, erschienen in der Ausgabe .

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Sandra Hoffmann ist Journalistin in der Evangelischen Öffentlichkeitsarbeit Frankfurt.