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Von – 27. April 2011

Abgeschnitten vom Leben

Wer nicht lesen und schreiben kann, kommt schwer zurecht

Gudrun Dreifuss bietet im Zentrum für Frauen Kurse für Analphabetinnen an. Foto: Ilona Surrey

Nennen wir sie Frau A. Sie ist 41 Jahre alt. Ihrer Tochter im Teenagealter erzählt sie, dass sie im Tagestreff „17 Ost“ am Zoo bedürftige Frauen mit Kaffee und Kuchen versorgt. In Wirklichkeit besucht sie dort einmal in der Woche den Sprachunterricht. Frau A. hat als Kind kaum Lesen und Schreiben gelernt und geniert sich dafür. Aber ihre Mutter war alkoholkrank und als Jüngste von sechs Geschwistern hatte sie einen schlechten Start. Erst Vorschule, dann Sonderschule.

„Zuerst haben wir zusammen geübt, Laute deutlich zu unterscheiden, also zum Beispiel ein ü von einem ä“, erzählt Gudrun Dreifuss. Die ehemalige Grundschullehrerin bietet die Kurse in dem evangelischen „Zentrum für Frauen“ an. Manche Wörter der Schriftsprache, wie zum Beispiel „Spiegelei“, waren Frau A. zuvor völlig unbekannt – bei ihr zuhause hatte das immer auf Hessisch „Ochseaache“ (Ochsenauge) geheißen. Bücher gab es nicht. Inzwischen erobern Schülerin und Lehrerin zusammen ganze Wortfelder, etwa die Bezeichnungen für Haushaltsgegenstände oder Obst und Gemüse.

Frau A. ist eine von derzeit zwei Schülerinnen, die bei Dreifuss kostenlos und im Einzelunterricht Lesen und Schreiben lernen. Die andere ist Frau M. Die 45-Jährige kann eigentlich schreiben, hat es sogar irgendwie geschafft, eine Ausbildung zu machen. Aber es fällt ihr sehr schwer, ihre Gedanken schriftlich zu ordnen. Dass ihre Schreibschwäche lange Jahre als Legasthenie eingeordnet wurde, hat sie eher blockiert als gefördert. Kürzlich hat Dreifuss ihr geholfen, einen Brief an den Vermieter zu formulieren. Auch Frau A. bringt manchmal Briefe mit in den Unterricht, die sie nicht richtig versteht. Die Erhöhung der Stromrechnung etwa oder einen Brief ihrer Rentenkasse. „Ich habe Angst vor Schulden“, sagt sie.

„Am Anfang der Stunde sprechen wir oft erst einmal über Persönliches. Da ist viel Hilflosigkeit, Scham, Angst und Wut“, erzählt Dreifuss. Frau A. hat es inzwischen geschafft, ihrem Arbeitgeber zu sagen, dass sie Analphabetin ist. „Am liebsten wäre ich in den Erdboden versunken“, sagt sie. Aber ihr Mut hat sich gelohnt. Sie erhält jetzt viel Unterstützung. Ihrer Tochter, die schon in der 8. Klasse ist und gut lesen und schreiben kann, hat Frau A. noch nichts gesagt, das hat sie aber fest vor. Und sie möchte auch den Führerschein machen und sich den kniffligen Fragen der theoretischen Prüfung stellen. Fahren kann sie ja längst.

Frau A. und Frau M. sind keine Einzelfälle. Nach einer aktuellen Studie der Universität Hamburg ist die Zahl der Analphabetinnen und Analphabeten in Deutschland viel höher als bisher geschätzt: Siebeneinhalb Millionen Deutsche zwischen 18 und 64 Jahren können demnach nicht richtig lesen und schreiben.

Natürlich ist die Dunkelziffer sehr groß. „Es ist ja auch schwer, das zuzugeben“, erklärt Gudrun Dreifuss. „Und es ist natürlich auch nicht mehr so einfach zu lernen wie als Kind.“ Auch die Volkshochschule bietet in Frankfurt Kurse an, aber nicht wenige Teilnehmerinnen und Teilnehmer springen bald wieder ab. „Doch wer nicht lesen und schreiben kann, ist teilweise vom gesellschaftlichen Leben abgeschnitten“, warnt Dreifuss.

Im Zentrum für Frauen sind die Kurse eingebettet in eine umfassende Palette von Angeboten. So gibt es auch Computerschulungen, damit die Frauen Angebote im Internet wahrnehmen oder sich bewerben können. Im Treff 17 Ost finden Frauen, die wohnungslos sind oder psychische Probleme haben, tagsüber Rat. Sie können in der Küche auch etwas selbst Mitgebrachtes zubereiten, sie können Wäsche waschen, duschen oder sich beim Tanzen und Qui Gong entspannen.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 27. April 2011 in der Rubrik Stadtkirche, erschienen in der Ausgabe .

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Stephanie von Selchow ist Redakteurin von "Evangelisches Frankfurt".