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Von – 28. November 2011

Freischaffende: Gebildet, kreativ, arm

Katja Kullmann diskutierte in der Stadtakademie über ihr Buch „Echtleben“

Katja Kullmann bei ihrer Lesung in der Evangelischen Stadtakademie „Römer9“. Foto: Rolf Oeser

Elf Monate hat sie geschwiegen, niemandem erzählt, dass sie von Hartz IV lebt, zu einem Tagessatz von 13 Euro. Die Woche über hat sie wenig gegessen, um am Wochenende „auch mal einen Gin Tonic ausgeben“ und berufliche Kontakte pflegen zu können.

Endlich kam der erlösende Anruf: „Wollen Sie bei uns Redakteurin werden?“ Katja Kullmann, Journalistin und Schriftstellerin, zog sofort von Berlin nach Hamburg. Schon bald gefiel ihr nicht nur das gute Gehalt, sondern auch das geregelte Arbeitsleben – bis sie nach Vorgabe ihres Verlages anfangen musste, freien Grafikerinnen und Journalisten immer wieder die Honorare zu kürzen. Die studierte Soziologin und Politologin wurde nachdenklich. Und kündigte nach anderthalb Jahren, um wieder als freie Autorin zu leben.

Ihre Gedanken und Erlebnisse hat die jetzt Vierzigjährige in einem Buch mit dem Titel „Echtleben“ verarbeitet, das sie in der Evangelischen Stadtakademie am Römerberg vorstellte. Darin erzählt die Ich-Erzählerin von ihrem Leben als „Hartzerin“ und festangestellte Redakteurin, reflektiert aber auch die so genannte „Kreativwirtschaft“. Das Leben im fortgeschrittenen Erwachsenenalter habe sie sich anders vorgestellt – gekennzeichnet von mehr Würde und Weitsicht. Stattdessen sei sie verwirrt und kurzatmig und frage sich immer wieder „Gehe ich noch aufrecht oder wurstele ich mich nur noch kreativ durch?“ Für die meisten heiße das neue Zauberwort „Pragmatismus“, was einer ideellen Bankrotterklärung gleichkäme.

Ohnehin seien die meisten Kultur-und Medienschaffenden „notfrei“. Laut Künstlersozialkasse liege ihr Durchschnittsverdienst brutto zwischen 12?000 und 15?000 Euro im Jahr. Es gebe aber auch immer mehr Freelancer im Bereich Recht, Steuern, Wirtschaftsberatung und den freien Heilberufen. Die Zahl der Minijobber und Leiharbeiterinnen habe sich vervielfacht. Und viele von ihnen müssten mit Hartz IV aufstocken, weil das, was sie verdienen, zum Leben einfach nicht reicht.

In „Echtleben“ erzählt Kullmanns Ich-Erzählerin, wie sie mit 38 Jahren zum ersten Mal zur Agentur für Arbeit gehen musste und dort in Tränen ausbrach, als die Beraterin ihr sagte, sie müsse sich nicht schämen. Dennoch habe sie sich dem typischen „kippenrauchenden Berliner Unterschichts-Arbeitslosen und dem Cindy-aus-Marzahn-Typ“ damals sehr überlegen gefühlt: „In dem Moment, wo ich unten angekommen war, empfand ich mich als unendlich reich.“ Ein „weicher“ Reichtum sei das, den sie habe, denn anders als viele andere Menschen, die zu wenig Geld haben, habe sie eine gute Ausbildung, könne beobachten, könne schreiben, kenne wichtige soziale Codes und habe Kontakte zu einflussreichen Leuten.

Im Gespräch mit dem Publikum sagte Katja Kullmann, ihr Jahr als Arbeitslose habe sie politisiert. Sie habe ihre frühere Arroganz abgelegt, als ihr klar geworden sei, dass viele freie Journalisten und Journalistinnen sich monetär „auf dem Niveau eines Fensterputzers“ bewegen. Wenn aber Mittelschicht und Unterschicht nicht mehr so weit voneinander entfernt seien, müsse man eine neue Art Solidarität denken. Jetzt zeige ja auch die Occupy-Bewegung, „dass die Leute sich nicht mehr erpressen lassen wollten“. Es sei schließlich auch nicht einzusehen, warum ein Werbetexter, der etwa den Spruch „Blue vanilla“ erfinde, soviel mehr verdiene als eine Krankenschwester oder Reinigungskraft. Deren Löhne müssten steigen.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 28. November 2011 in der Rubrik Stadtkirche, erschienen in der Ausgabe .

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Stephanie von Selchow ist Redakteurin von "Evangelisches Frankfurt".