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Von – 9. Oktober 2012

„Der Dialog führt uns tiefer in die eigene Wahrheit“

Was bedeutet die multireligiöse Ge­sell­schaft für die Kirchen? Ein Gespräch mit Gabriele Scherle und Joachim Valentin.

Gabriele Scherle ist Pröpstin für Rhein-Main in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Joachim Valentin ist Gründungsdirektor des Hauses am Dom. Foto: Rolf Oeser

Frau Scherle, Herr Valentin, seit über drei Jahren arbeiten die verschiedenen Religionen in Frankfurt in einem Rat zusammen. Welche Erfahrungen machen Sie?

Scherle: Für mich ist es eine großartige Erfahrung zu sehen, dass über die Begegnung auch das Verständnis füreinander wächst. Die Fremdheit ist ja doch groß, aber weil wir uns aufeinander einlassen, wachsen mir die Menschen auch ans Herz. Und dann will ich sie auch besser verstehen. Vieles wird so zugänglich, manches bleibt mir aber auch fremd. Es tut einer Stadtgesellschaft einfach gut, wenn es viele Menschen gibt, die ein bisschen mehr voneinander wissen.

Valentin: Leider wird das Thema Religion in der Öffentlichkeit häufig als konfliktbeladenes Thema diskutiert, sei es beim Moscheebau, bei den Salafisten oder bei der Feiertagsregelung in Hessen. Das hat natürlich auch etwas mit den Medien zu tun, die gerne die schlechten Nachrichten zur Nachricht machen. Wir erleben im Rat der Religionen aber etwas anderes. Es gibt dort Solidarität, es gibt ein großes Verständnis dafür, dass jemandem Riten und Werte wichtig sind. Es gibt bei aller Unterschiedlichkeit doch schon eine gemeinsame Lebensweise, nämlich die, dass man religiös ist. Im Grunde findet dort etwas statt, das an vielen anderen Stellen auch stattfinden müsste, nämlich ein offener Austausch über Glaubensfragen, und dabei eben gerade auch über die Punkte, an denen man unterschiedlicher Meinung ist.

Wird das Vertrauen manchmal auch auf die Probe gestellt?

Scherle: Es gab einen Konflikt um die Haltung gegenüber Menschen, die homosexuell sind und leben. Für mich war das eine ganz schwierige Situation, weil die große Mehrheit im Rat die gleichgeschlechtliche Liebe aus religiösen Gründen ablehnt. Aber mich hat letztlich doch beeindruckt, dass trotz unterschiedlicher Sichtweisen und harter Auseinandersetzung das Vertrauen nicht zerstört wurde. So schwer es zum Beispiel für einige Muslime war, dass ich eine so klare Position zur Homosexualität vertrete, so haben sie mir doch abgenommen, dass ich das nicht einfach nur so sage, sondern als Christin verantworten und theologisch begründen kann.

Valentin: Ich fand es gut, dass Sie beim Thema Homosexualität so stark gegen Diskriminierung eingestanden sind. Es war schön, zu sehen, wie die anderen Ihre Position ernst genommen haben und nicht gleich gesagt wurde: Ihr seid ja verwestlicht und säkular. Ich denke auch, dass gegenüber uns als Vertretern der Kirche bei manchen heiklen Themen ein größeres Vertrauen da ist als gegenüber irgendjemandem Säkularen, weil man uns abnimmt, dass wir einen Gottesglauben vertreten. Ich glaube aber auch, dass langfristig Lernprozesse in alle Richtungen stattfinden werden. Es ist keine Einbahnstraße nach dem Motto: Wir Christen sagen den anderen, wo es langgeht. Dialog heißt, dass man den anderen ernst nimmt, alles andere ist Fake, Spiegelfechterei und heuchlerisch.

Scherle: Es könnte schon sein, dass der Dialog alle Beteiligten irgendwie orthodoxer macht, also tiefer in die eigene Wahrheit führt. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass man sich klarer positionieren muss. Ich zum Beispiel habe noch nie eine so dezidierte Haltung zur Trinität entwickelt wie im Gespräch mit den Muslimen.

Das Thema religiöse Vielfalt wird oft immer noch in der Rubrik „Einwanderung“ abgelegt, aber auch unter Deutschen gibt es ja inzwischen vielfältige religiöse Zugehörigkeiten.

Valentin: Ich halte es eigentlich nur für eine Übergangslösung, dass der Frankfurter Rat der Religionen im Integrationsdezernat angesiedelt ist. Das ist für die vielen deutschstämmigen Muslime eigentlich ein Affront, aber auch für die Juden und für andere, die lange hier leben. Und letztlich auch für die Kirchen, denn wir sind ja auch Mitglied im Rat der Religionen. Es gibt Angebote von Seiten des Kirchendezernenten, der einmal im Gespräch mit uns gesagt hat, er empfinde sich eigentlich als Religionsdezernent. Das war ein wichtiges Signal, denn in vielen Frankfurter Dezernaten, sei es im Schulamt, im Jugendamt oder im Sozialamt, hört man immer wieder den Satz: „Wir sind für alle Religionen da, deshalb spielt für uns Religion keine Rolle.“ Aber das ist falsch. Eine der Hauptintentionen des Rates der Religionen ist es, in die Köpfe zu kriegen, dass religiöses Leben in den verschiedenen Dimensionen der Gesellschaft eine Rolle spielt und nicht irrelevant ist.

Die Gesellschaft als multireligiös zu verstehen fordert gerade den großen Kirchen Toleranz ab. Müssen sie den Vertretungsanspruch für das Religiöse abgeben?

Scherle: Ich glaube, wir sind immer noch dabei, zu lernen, was es bedeutet, in einer interreligiösen Situation zu sein. Mir macht ein bisschen Sorge, dass ich einerseits eine Tendenz zur Beliebigkeit wahrnehme – nach dem Motto: Alle glauben ja doch irgendwie dasselbe – und auf der anderen Seite eine Tendenz, die Schotten dicht zu machen und in Richtung Fundamentalismus zu gehen. Unsere Aufgabe ist es, diesem Angriff auf die Herzen und Hirne etwas entgegenzusetzen. Dazu gehört dann auch zuzugeben, dass es wirklich schwer ist, sich auf Menschen, die ganz anders glauben und leben, einzulassen. Ich sage immer, dass wir das als geistliche Aufgabe wahrnehmen müssen: Der liebe Gott hat uns diese Situation aufgegeben. Dass wir als Kirchen nicht mehr das Monopol auf Religiosität haben, ist kein Versagen, und es ist auch kein Niedergang, sondern das ist uns jetzt einfach vor die Füße gelegt.

Valentin: Umgekehrt nehme ich hier in Frankfurt aber gar nicht wahr, dass die Kirchen weniger Aufmerksamkeit hätten. Auch weil es eine verstärkte Aufmerksamkeit für das Phänomen Religion insgesamt gibt. Ganz strategisch gedacht nutzt das den Kirchen letztlich auch.

Wie wirkt sich die Multireligiosität auf das Verhältnis zwischen Staat und Religion aus?

Scherle: Viele Muslime sagen, das besondere deutsche Religionsverfassungsrecht sei für sie eine Möglichkeit, einen Ort in der Gesellschaft zu bekommen. Ich glaube, wir sind uns überhaupt noch nicht im Klaren darüber, was für ein Geschenk das ist. Wir haben in Deutschland positive und negative Religionsfreiheit, das heißt, unsere Verfassung begrenzt die Religionsausübung, aber gleichzeitig bestätigt sie sie auch positiv. Das ist eine echte Perspektive für einen Europa-Islam, und viele Muslime sehen diese Chance. Deshalb ärgere ich mich manchmal, wenn wir selbst gar kein Bewusstsein dafür haben, sondern auch in den Kirchen manche das französische Modell des laizistischen Staates befürworten.

Valentin: Ich bin aber optimistisch. Es spricht sich langsam herum, dass das deutsche Religionsrecht nicht bedeutet, die Kirchen zu bevorzugen, und dass es auch nicht darum geht, andere Religionen zu verdrängen, sondern nur darum, gleiches Recht für alle zu gewährleisten. Das heißt zum Beispiel auch, sich an den Universitäten über die Weltanschauungen auszutauschen und sie auf der Basis der Aufklärung zu reflektieren.

Wie ist denn das Verhältnis zum Atheismus? Gibt es eine Gemeinsamkeit zwischen den Glaubenden der verschiedenen Religionen gegenüber denen, die gar keiner Religion angehören wollen?

Scherle: Das ist schon eine Herausforderung. Die besteht aber auch darin, die etwa dreißig Prozent Konfessionslose nicht alle über einen Kamm zu scheren. Eine große Zahl versteht sich nach wie vor als religiös, andere als agnostisch, und nur ein ganz kleiner Teil als atheistisch. Solche Menschen können mir in mancher Hinsicht näher stehen als sehr gläubige Menschen, zum Beispiel in Menschenrechtsfragen oder in Emanzipationsfragen. Das will ich nicht verhehlen, denn es ist ja nicht so, dass intensive Religiosität vor Inhumanität oder gesellschaftlicher Verblendung schützt.

Ein Vorwurf, der von säkularer Seite gegen Religionen generell vorgebracht wird, ist, dass sie ein tendenziell konservatives, rückwärtsgewandtes Bild vom Menschen hätten.

Scherle: Religion ist immer ambivalent. Das gilt aber auch für jede andere Weltanschauung. Gegenwärtig sehen wir uns ja nicht nur mit einem religiösen, sondern auch mit einem atheistischen Fundamentalismus konfrontiert, der sich selbst als gesellschaftliches Heilsmittel versteht. Und ich erlebe solche Atheisten manchmal als besonders aggressiv. An diesem Punkt gibt es bei mir dann wieder große Solidarisierungsgefühle den anderen Gläubigen gegenüber. Pauschal zu behaupten, Religion sei schlecht und schlimm, ist einfach banal. Ein aufgeklärter Agnostiker ist mir dagegen in vielen Fragen durchaus nahe. Ich ringe auch jeden Tag immer wieder mit dem Glauben.

Valentin: Mit der Frage nach dem Verhältnis zum Atheismus beschäftigen wir uns derzeit in Frankfurt vielleicht zu wenig, was aber auch daran liegt, dass es einen organisierten Atheismus, wie zum Beispiel in Berlin, hier nicht gibt.

Scherle: Ich glaube, dass Frankfurt in dieser Hinsicht etwas ganz Besonderes ist. Ich war kürzlich in Berlin, und es ist schon bemerkenswert, wie antireligiös die Gesellschaft dort ist. Im Vergleich dazu haben wir hier eine sehr weltoffene Stadt, wo auch die Politik religionsfreundlich ist, mit einer liberalen und offenen Grundhaltung.

Valentin: Das liegt auch an dieser bürgerlichen Haltung, wonach, wer sich engagiert und ein Projekt startet, erst einmal ein anerkannter Partner der Stadtgesellschaft ist. Das ist hier in Frankfurt eine alte Tradition.

Scherle: Und es hängt natürlich damit zusammen, dass diejenigen, die hier Religion vertreten, sich auch die Begrenzung von Religion gefallen lassen. Wir haben zwar eine Botschaft mit universaler Reichweite, aber wir wollen nicht einen Geltungsanspruch durchsetzen. Vielmehr lassen wir uns von der Politik begrenzen und versuchen, unseren Beitrag für das Ganze zu leisten. Ich habe den Eindruck, da sind wir als Großkirchen hilfreich für die anderen Religionen. Denn sie sehen, dass wir diese Begrenzungen akzeptieren, aber trotzdem unseren Raum in der Gesellschaft bekommen.

Valentin: Wobei wir da noch am Anfang eines Prozesses stehen. Es gibt auch einige, die die starke Rolle der Kirchen im interreligiösen Dialog in Frage stellen.

Scherle: Ja, das ist ein heikler Punkt. Aber das gehört ja auch zum Dialog, sich asymmetrischen Situationen zu stellen. Wir Christen sind nun einmal die Mehrheit. Ich muss ehrlich sagen, da machen mir die Debatten manchmal schon Mühe. Es ist ja nicht so, dass alle Religionen dieselbe gesellschaftliche Bedeutung hätten. Wir Christen stellen in Frankfurt fünfzig Prozent der Bevölkerung, deutschlandweit sogar sechzig Prozent.

Valentin: Es gibt Journalisten, die sind ganz erstaunt, wenn man ihnen sagt, dass es in Deutschland fünfzig Millionen Kirchenmitglieder gibt und nur vier Millionen Muslime. Die Medien haben den Menschen so lange einmassiert, dass der Islam hier angeblich die Vorherrschaft übernimmt und aus der Kirche alle austreten, dass da in vielen Köpfen völlig falsche Vorstellungen entstanden sind.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 9. Oktober 2012 in der Rubrik Menschen, erschienen in der Ausgabe .

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Dr. Antje Schrupp ist geschäftsführende Redakteurin von Evangelisches Frankfurt. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com.