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Von – 13. September 2013

„Wir widersetzen uns dem Minutenwahn“

Häusliche Krankenpflege gehörte lange zu den Kernaufgaben kirchlicher Diakonie. Noch immer arbeiten in Frankfurt fünfzig Pflegekräfte bei den inzwischen zentralisierten Diakoniestationen. Doch sie bekommen zunehmend Konkurrenz: von privaten Pflegediensten ebenso wie von Pflegerinnen aus Osteuropa, die oft ohne rechtliche Absicherung arbeiten.

Robert Wehrum leidet an Chorea Huntington. Bei der alltäglichen Betreuung und Pflege ihres Mannes braucht Ursula Wehrum Unterstützung. Deshalb kommt Krankenpflegerin Katica Kristofic von der Diakonie jeden Morgen zum Blutdruckmessen und Waschen; sie gibt auch notwendige Injektionen oder hilft, den Kranken in den Stuhl zu heben. Fotos: Ilona Surrey

Robert Wehrum leidet an Chorea Huntington. Bei der alltäglichen Betreuung und Pflege ihres Mannes braucht Ursula Wehrum Unterstützung. Deshalb kommt Krankenpflegerin Katica Kristofic von der Diakonie jeden Morgen zum Blutdruckmessen und Waschen; sie gibt auch notwendige Injektionen oder hilft, den Kranken in den Stuhl zu heben. Foto: Ilona Surrey

Im Juni hat ein Expertenbeirat dem Bundesgesundheitsminister einen Bericht übergeben, in dem die Pflegebedürftigkeit neu definiert wird. Neben körperlichen Einschränkungen sind darin jetzt auch Demenzerkrankungen erfasst, der „Verlust an Selbstständigkeit durch Einschränkungen der kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten.“ Statt drei Pflegestufen soll es in Zukunft fünf Pflegegrade gebe – gemessen am Grad der Selbstständigkeit des Patienten oder der Patientin.

„Es ist ja möglich, dass jemand zwar körperlich in der Lage wäre, allein zu essen, aber trotzdem starr vor dem Essen sitzt, weil er sich nicht daran erinnert, was zu tun ist“, erklärt Helmut Ulrich, Geschäftsführer der gemeinnützigen Frankfurter Diakoniestation Gmbh. „Es wäre eine große Entlastung für die Familien, die Angehörige pflegen, wenn die Vorschläge in der neuen Legislaturperiode umgesetzt würden.“

Ulrich hält die Pflege von alten und kranken Menschen nach wie vor für eine christliche Kernaufgabe. „Diakonische Arbeit wird in der Gesellschaft stark mit Kirche assoziiert“, sagt er. „Das sollte sie sich niemals nehmen lassen.“ Doch die Pflegedienste von Diakonie und Caritas bekommen immer mehr Konkurrenz. Mittlerweile gibt es allein in Frankfurt rund 150 gemeinnützige und private Pflegedienste, von denen einige ebenfalls den Anspruch haben, nach „christlichem Menschenbild“ zu arbeiten.

Foto: Ilona Surrey

Foto: Ilona Surrey

„Wir widersetzen uns bewusst dem Minutenwahn“, sagt Ulrich kämpferisch. Also der Einschätzung des medizinischen Dienstes der Krankenkasse, welche Pflegeleistung wie lange dauern darf. Viele alte Menschen, sagt Ulrich, seien einsam. Dann müsse eine Pflegekraft auch mal eine Weile zuhören können oder die Patientin in den Arm nehmen dürfen. Das lässt sich natürlich nicht abrechnen. Es sei aber trotzdem diakonischer Auftrag. „Für viele Pflegebedürftige ist eine gute Krankenschwester diejenige, die einen umsorgt und auch mal ein bisschen betüddelt.“

Aber die Diakoniestation muss wirtschaftlich arbeiten, um konkurrenzfähig zu bleiben. Gespart wurde in den letzten zehn Jahren vor allem durch Senkung der Sach- und Verwaltungskosten. Es gibt jetzt nur noch eine zentrale Verwaltungsstelle in der Battonnstraße mit einer Pflegedienstleitung. Außerdem wurde ein neues Abrechnungssystem eingeführt und die Einsatzplanung optimiert: Krankenschwestern und Altenpfleger bekommen den Einsatzplan morgens auf ihr Handy überspielt und müssen dafür nicht mehr persönlich in der Zentrale erscheinen.

Wollen wir Pflegekräfte nur noch auf Leistung trimmen?

Bekam die Frankfurter Diakoniestation im Jahr 2001 noch einen Zuschuss von 2,1 Millionen Euro aus Kirchensteuermitteln, waren es 2012 nur noch 350 000 Euro. Voraussichtlich 2018 wird die vom Evangelischen Regionalverband dafür eingesetzte Rücklage aufgebraucht sein. „Dann ist die Frage: Schaffen wir es, kostendeckend zu arbeiten?“, sagt Ulrich. „Und erst recht: Wollen wir das überhaupt? Wollen wir unsere Pflegekräfte nur noch auf Leistung trimmen?“

Die meisten alten Menschen, die nicht nur zeitweise, sondern rund um die Uhr in den eigenen vier Wänden gepflegt werden müssen, können sich Hauskrankenpflege zu legalen Bedingungen ohnehin gar nicht leisten. Sie engagieren Frauen aus Polen, Bulgarien, Rumänien, Kroatien oder der Ukraine, die im Monat meist zwischen 1200 und 1500 Euro verdienen – so billig kann kein Pflegedienst oder Pflegeheim sein. Man nimmt an, dass in Deutschland etwa 100 000 Frauen irregulär pflegen. Also ohne Versicherungsschutz, Altersvorsorge und Steuerabgaben.

„Das wird vom deutschen Staat nicht strafrechtlich verfolgt“, sagt Pfarrer Dietmar Burkhardt, der zurzeit an einem Forschungsprojekt „Kirche und Migration“ im Fachbereich Evangelische Theologie an der Universität Frankfurt arbeitet. „Man fürchtet wohl einen noch größeren Pflegenotstand.“

Scheinbarer Familienanschluss der Pflegerinnen ist trügerisch

Welche sozialen, psychischen und physischen Folgen das Leben in der Irregularität in deutschen Haushalten für polnische Frauen hat, hat Agnieszka Satola, eine Wissenschaftlerin mit polnischen Wurzeln, in ihrer Doktorarbeit erforscht.

„Das größte Problem ist, dass die Frauen, die meist zwischen 45 und 50 Jahre alt sind, wie ein Familienmitglied behandelt werden, es aber nicht sind“, sagt Satola. „Sie sind stolz auf ihren respektvollen, einfühlsamen und aufopfernden Umgang mit Klienten. Doch je mehr sie Fürsorgekompetenzen einbringen, desto mehr werden sie oft in die psychische Dynamik der Klientinnen und ihrer Familien involviert. Dann besteht eine erhöhte Gefahr von Abhängigkeit und Ausbeutung.“

Manche dieser Frauen, aber längst nicht alle, arbeiteten in einem rotierenden System, um dieser Dynamik entgegenzuwirken. Wenn sich zum Beispiel vier Frauen aus einem Ort in Polen zusammenschließen, können zwei nach Deutschland gehen und möglicherweise sogar gemeinsam jemanden pflegen, während die anderen beiden sich um die Familien zuhause kümmern. Nach einer Weile tauschen dann die Zweierteams.

Viele Vermittlungsagenturen für Privatpflege sind unseriös

Ein weiteres Problem, so Satola, sei die Vermittlung: Derzeit geraten Frauen aus Osteuropa oft in die Fänge unseriöser Agenturen, die Verträge mit ihnen schließen, aus denen sie nur gegen Strafzahlungen wieder herauskommen, und die außerdem von den Arbeitgebern eine unverhältnismäßig hohe Gebühr verlangen.

Satola schlägt vor, dass Caritas und Diakonie hier als Vermittlungsstellen arbeiten und dadurch auch eine gewisse Kontrollfunktion ausüben könnten. „Es gab in den letzten Jahren einmal ein Projekt zwischen einer Caritas in Polen und einer in Deutschland“, erzählt sie. „Da wurden die polnischen Frauen zunächst einmal qualifiziert: Sie konnten einen Sprachkurs machen und lernten etwas über medizinische und psychologische Aspekte der Pflege. Außerdem wurde darauf geachtet, dass sie nicht schleichend von ihren Arbeitgebern ausgenutzt wurden. Dem Arbeitgeber wiederum war ihre Qualifikation und ihre Situation zuhause bekannt.“

Langfristig sei es dringend notwendig, dass in Deutschland Examen von Krankenschwestern und Altenpflegern aus dem Ausland anerkannt würden, sagt die Wissenschaftlerin. Aber um die unwürdigen irregulären Arbeitsverhältnisse ganz abzuschaffen, müsse die Pflege in Deutschland auf die Dauer mehr von der Allgemeinheit subventioniert werden.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 13. September 2013 in der Rubrik Lebenslagen, erschienen in der Ausgabe .

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Stephanie von Selchow ist Redakteurin von "Evangelisches Frankfurt".