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Von – 5. Juli 2014

Was die Gehirnforschung über Frauen und Männer weiß

Ob Neuropädagogik, Neuroethik, Neuroästhetik – das Präfix „Neuro“ scheint heutzutage überall zu passen. Der Frage, was Neurowissenschaften zum Thema Geschlechterdifferenz zu sagen wissen, ging Sigrid Schmitz, Biologin im Bereich Gender Studies an der Universität Wien, in der Evangelischen Akademie am Römerberg nach.

Ob diese Gehirn weiblich oder männlich ist, lässt sich nicht sagen. Denn jedes Gehirn ist einzigartig. Foto: ag visuell - Fotolia.com

Ob dieses Gehirn weiblich oder männlich ist, lässt sich nicht sagen. Denn jedes Gehirn ist einzigartig. Foto: ag visuell – Fotolia.com

Kann die landläufig behauptete größere Empathiefähigkeit von Frauen oder das vorgeblich bessere räumliche Vorstellungsvermögen von Männern bei Gehirn-Scans tatsächlich sichtbar gemacht werden? Und ist das dann ein Ergebnis der Evolution oder angeboren?

Beides wäre alter Biologismus in neuen Tassen. Die Gefahr, dass die Neurowissenschaften zur letzten Bastion einer angeblich „natürlichen“ Festschreibung von Geschlechterklischees werden, besteht tatsächlich. So werde „Neuroplastizität“, also die Veränderbarkeit des Gehirns, zwar häufig angeführt wird, wenn es um Möglichkeiten geht, das Gehirns als eine in der Leistungsgesellschaft hochrelevante Ressource zu „optimieren“, wie Sigrid Schmitz beobachtet hat. Paradoxerweise werden aber umgekehrt Hirnscans schnell als Beweismittel herangezogen, wenn es darum geht, Konventionen zu begründen, wie etwa tradiertes weibliches oder männliches Rollenverhalten.

Es gebe aber auch andere Forschungen, die nahelegen, dass Geschlecht doch eher ein Konstrukt ist. Schmidt stellte dazu die in ihrer visuellen Aufbereitung beeindruckenden „Gehirn-Mosaike“ einer Forschergruppe um Daphne Joel in Tel Aviv vor. Sie haben in ausführlichen Testreihen gezeigt, dass jedes einzelne Gehirn anders ist als alle anderen, und dass sich kein Gehirn eindeutig einem bestimmten Geschlecht zuordnen lässt.

Bilder aus so genannten „bildgebenden Verfahren“ seien ihrerseits selbst bereits Konstrukte, denn sie müssen interpretiert werden, sagte Schmidt. Sie bilden nicht etwas „objektiv“ ab, sondern beruhen auf vorgegebenen Methoden. So sei zum Beispiel auffällig, dass Studien mit wenigen Teilnehmenden häufiger signifikante Unterschiede in den Scans von Frauen und Männern belegen als  Studien mit vielen Teilnehmenden. Die Mittelwerte aus gemischten Zufallsgruppen, so Schmidt, würden von den Mittelwerten aus reinen Frauen- oder Männergruppen nicht abweichen.

Ob das Geschlecht einen Unterschied in neurowissenschaftlichen Forschungen macht, hängt also wesentlich von den methodischen Vorgaben, der Interpretation der Ergebnisse, aber auch vom Setting ab.

Frauen schneiden zum Beispiel bei mathematischen Tests viel schlechter ab, wenn sie zuvor in einem Formular ankreuzen mussten, ob sie ein Mann oder eine Frau sind. Wenn sie hingegen nur angeben mussten, welche Nationalität sie haben, unterscheiden sich ihre Testergebnisse nicht von der Gruppe der Männer – ein eindrückliches Beispiel dafür, wie eingeübte Vorurteile sich unmittelbar in messbare Testergebnisse übertragen.

Doch offenbar besteht eine gesellschaftliche Vorliebe für Forschungen, die Geschlechterunterschiede „wissenschaftlich beweisen“. Studien, die einen Unterschied konstatieren, würden nachweislich häufiger zitiert als andere Studien, sagte Schmidt. Wer also Geschlechterstereotype zementieren will, findet in den Neurowissenschaften eine blühende Spielwiese. Allerdings lässt sich am Beispiel der Neurowissenschaften auch besonders plastisch nachweisen, wie sehr die Kategorie Geschlecht letztlich eben doch ein gesellschaftliches Konstrukt ist.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 5. Juli 2014 in der Rubrik Kultur, erschienen in der Ausgabe , .

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Dr. Silke Kirch studierte Germanistik, Kunstpädagogik und Psychologie in Frankfurt am Main und ist freie Autorin und Redakteurin.