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Von – 11. Oktober 2014

„Ich werde gesehen, also bin ich“

Was früher den Reichen, Schönen und Berühmten vorbehalten war, das können heute alle: Immer mehr Menschen präsentieren sich im Internet wie auf einer großen Bühne. Und zeigen damit viel von der modernen Seele.

Diskutierten in der Evangelischen Akademie am Römerberg über Selbstinszenierung im Internet: Die Medienwissenschaftlerin Birgit Richard, die Politikerin Marina Weisband, und der Psychologe Martin Altmeyer (v.l.n.r.). Foto: Rolf Oeser

Diskutierten in der Evangelischen Akademie am Römerberg über Selbstinszenierung im Internet: Die Medienwissenschaftlerin Birgit Richard, die Politikerin Marina Weisband, und der Psychologe Martin Altmeyer (v.l.n.r.). Foto: Rolf Oeser

Sie fotografieren ihr Mittagessen, ihre Katze, ihr Wohnzimmer und posten die Bilder auf Facebook. Sie machen „Selfies“, also Aufnahmen von sich selbst, mit dem Smartphone am ausgestreckten Arm oder vor dem Spiegel. Hier, rufen sie ihren nahen und fernen Bekannten zu: So sehe ich aus mit meinem neuen Kleid! Schaut her, ich stehe gerade vor dem Eiffelturm!

Sind all diese Menschen narzisstische Gemüter, die nichts Besseres zu tun haben? Bedauernswerte Geschöpfe auf der verzweifelten Suche nach Anerkennung? Das glauben viele, nicht aber Martin Altmeyer. Der Frankfurter Psychologe sieht in dem Wunsch nach Selbstinszenierung in den sozialen Medien eher ein natürliches menschliches Verhalten. „Früher dachte man in der Psychologie, das Seelenleben des Menschen liege in seinen Trieben oder in seinem innersten Wesen. Heute wissen wir, unsere Seele beginnt bei den Beziehungen.“

Lustvolle Kommunikation unseres Selbst

Altmeyer war einer der Podiumsgäste in der Evangelischen Akademie am Römerberg zum Thema „multimediale Selbstdarstellung“. Es gebe ganz einfach ein menschliches Grundbedürfnis nach sozialer Resonanz. Menschen hätten schon immer die Neigung gehabt, „der Welt zu zeigen, was in ihnen steckt.“ Kein Wunder also, dass sie auch die Möglichkeiten des Internet entsprechend nutzen.

Die Politikerin Marina Weisband, die vor einigen Jahren als Geschäftsführerin der Piratenpartei bundesweit bekannt geworden ist, sieht ebenfalls eher positive Aspekte in der „lustvollen Kommunikation unseres Selbst“. Eine Gesellschaft werde besser, wenn die Menschen viel kommunizieren, glaubt Weisband.

Problematisch sei allerdings das Sammeln der Daten, weil dadurch mehr Informationen über Menschen entstehen als sie selbst von sich preisgeben oder ihnen bewusst ist. Computerprogramme können Wahrscheinlichkeiten berechnen, zum Beispiel aus dem Musikgeschmack, den Freunden, den Reisezielen oder den gelesenen Büchern ableiten, welche sexuellen Vorlieben jemand hat oder welche Partei man wählt. Die Politik müsse deshalb mehr unternehmen, um die informationelle Selbstbestimmung der Einzelnen zu schützen, so Weisband.

Die schönen Momente des Lebens festhalten

Der Wunsch, gesehen zu werden, sei auch nicht die einzige Motivation für die Selbstdarstellung im Internet. Hinzu komme der Wunsch, das eigene Leben zu gestalten. In mehreren Studien wurde inzwischen belegt, dass die meisten Menschen ihr Leben auf Facebook positiver darstellen, als es in der Realität ist. Die Skeptischen sehen sich dadurch in ihrer Kritik bestärkt – ist doch alles Lüge und Schönfärberei!

Andererseits: Auch ins Fotoalbum klebt man ja eher Bilder von den schönen Ereignissen des Lebens ein, von Urlauben und Festen. „Erinnerung ist nie objektiv“, sagte Weisband, „und eine positive Darstellung meines eigenen Lebens ist auch für mich selbst positiv, denn es bedeutet, dass ich mich später einmal eher an die schönen Dinge erinnern will.“

Wie langweilig es ist, wenn sich jemand im Internet nicht bewusst inszeniert und in schönes Licht rückt, sondern tatsächlich nur nackte Fakten dokumentiert, wurde am Beispiel von Christian Heller deutlich. Der Autor des Buches „Prima leben ohne Privatsphäre“ schreibt die kleinsten Details über sich ins Internet. Man kann so Dinge nachlesen, wie was er gestern im Supermarkt eingekauft hat, wann er heute aufgestanden ist und wie hoch sein letztes Vortragshonorar war.

Die meisten Selfies sind bewusst inszeniert

Aber: „Warum gibt es denn keine Fotos von Ihnen?“ fragte das Publikum prompt. Vielleicht wollen wir ja gar nicht einfach „die Wahrheit“ über andere Leute wissen, sondern eine Geschichte hören? Tatsächlich sehen die meisten Selfies im Internet zwar spontan aus, in Wirklichkeit sind aber die meisten von ihnen sorgfältig inszeniert. In den seltensten Fällen wird der erste Schnappschuss genommen. Natürlich probiert man so lange herum, bis das Doppelkinn nicht so sehr ins Auge springt. Anschließend lässt man die Fotos dann wieder durch einen Filter laufen, damit sie aussehen wie ein altes, zufällig gemachtes Polaroid.

Das alles sei aber keine Täuschung sondern eher an der Grenze zur Kunst, meinte Birgit Richard. Für ihre Sammlung von Erzeugnissen der Jugendkultur hat die Medienwissenschaftlerin tausende Fotos und Videos gesichtet. Ihr Resumee: „Es gibt viel Mist, aber auch richtig Gutes.“ So wie jenes Video, für das ein junger Mann sich sechs Jahre lang täglich fotografiert hatte und die Fotos dann im Zeitraffer auf einige Minuten brachte. Zwanzig Millionen mal wurde das schon angeklickt. „Solche Videos finden dann oft Nachahmer, andere fühlen sich inspiriert, etwas eigenes zu machen“, sagte Richard.

Besonders erfolgreich seien Videos, in denen Menschen ihre ganz speziellen, individuellen Fähigkeiten zeigen. „Viele können etwas, das niemand in ihrem nahen Umfeld besonders toll findet, aber im Internet finden sie ihr Publikum“, sagte Richard. So wie ein gewisser Gerry Philipps, der den Queen-Hit „Bohemian Rhapsody“ mit den Händen „pupst“. Zwei Millionen mal wurde das auf seinem Youtube-Kanal bereits angeschaut.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 11. Oktober 2014 in der Rubrik Kultur, erschienen in der Ausgabe , .

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Dr. Antje Schrupp ist geschäftsführende Redakteurin von Evangelisches Frankfurt. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com.

Kommentare zu diesem Artikel

  • Ronald schrieb am 6. November 2014

    Da muss ich Herrn Altmeyer, der der Meinung war, dass der Wunsch nach Selbstinszenierung im WWW dem menschlichen Grundbedürfnis nach sozialer Resonanz entspringt! Dieses Bedürfnis mag es zwar tatsächlich geben, doch er vergisst, dass diese Resonanz oft eine sehr einseitige und zudem virtuelle ist und bleibt, wenn es keine Kommunikation mit realen Menschen und besonders Freunden gibt. Daran mangelt es vielen, die sich im Internet darstellen, sodass diese Selbstdarstellung auch etwas äußerst Narzisstisches ist und bleibt! Man könnte sogar böswillig behaupten, dass diese Neigung ein Abbild unserer Ellbogengesellschaft in kleinerem Maßstab ist, in der jeder nur an sich denkt.

    Ebenso ist Frau Weisbands Aussage zu relativieren, die glaubt, dass unsere Gesellschaft durch viel Kommunikation unter Menschen besser wird. Dies ist zwar natürlich tatsächlich der Fall, ob dazu aber die übertriebene Neigung zur Selbstdarstellung beiträgt, wage ich sehr zu bezweifeln, zumal, siehe oben, die reale Kommunikation nicht genügend oder kaum stattfindet und so wirkungslos bleibt bzw. gar nicht zum Zuge kommt!

    Schon seit Längerem gibt es Berichte über Untersuchungen über Einsamkeit im und durch das WWW (siehe beispielsweise http://blog.ronaldfilkas.de/2014/08/31/einsamkeit-und-alleinsein/ mit weiteren Verweisen). Zudem bringen Leute, die sich, ihr Essen usw. durch die Linse eines mobilen Kommunikations- und Multimediageräts wahrnehmen, einen Filter zwischen sich und dem Erlebten, was dazu beiträgt, dass alles eben nur noch durch diese Linse erlebt wird und nicht mehr real. Mögen einige der „Selfies“ oder selbst gebastelten Videos tatsächlich an Kunst grenzen, so täuschen sie nicht darüber hinweg, dass viele der heutigen „User“ auf dem besten Wege zu späterer Einsamkeit sind!