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Von – 13. Februar 2015

Der Islam gehört zur deutschsprachigen Krimilandschaft

Kaum eine andere Literaturgattung ist so aufnahmefähig für die Diskussion gesellschaftlicher und moralischer Probleme wie der Kriminalroman. Auch wer mehr über den Islam wissen möchte, ist in diesem Genre richtig. Ein literarischer Streifzug.

„Radikal“: Der Kriminalroman von Yassin Musharbash kam – in einer Bühnenfassung von Jens Groß und unter der Regie von Anna Bergmann – im Berliner Maxim Gorki-Theater auch als Theaterstück auf die Bühne. Foto: picture alliance/Eventpress Hoensch

„Radikal“: Der Kriminalroman von Yassin Musharbash kam – in einer Bühnenfassung von Jens Groß und unter der Regie von Anna Bergmann – im Berliner Maxim Gorki-Theater auch als Theaterstück auf die Bühne. Foto: picture alliance/Eventpress Hoensch

Das politische Berlin wird von einem Attentat erschüttert. Ein aufstrebender und mitreißender junger Bundestagsabgeordneter der Grünen wird durch eine ferngezündete Bombe getötet, während er im Frühstücksfernsehen interviewt wird; mit ihm sterben dreizehn Zuschauer im Studiobereich.

Der getötete Lutfi Latif, ein deutscher Muslim ägyptischer Abstammung, galt als der kommende Mann für alles, was mit „Multikulti“ und Integration zu tun hat. Wer hatte ein Interesse am Tod dieses Mannes? Islamistische Terroristen, die einen prominenten liberalen Abweichler wegbomben wollten? Oder rechte Islamhasser, die ein Zeichen gegen den Durchmarsch „des Islam“ in die politischen Institutionen der Bundesrepublik setzen wollten?

Der Islam gehört zur deutschsprachigen Krimi-Landschaft

So nah dieses Bild dem aktuellen politischen Geschehen in Frankreich und anderswo ist: Diesmal handelt es sich um eine Fiktion, genauer: um einen 2012 erschienenen Kriminalroman des ZEIT-Journalisten Yassin Musharbash. Das gleich mit sehr guten Kritiken bedachte Buch macht deutlich: Der Islam gehört mittlerweile nicht nur zu Deutschland, sondern auch in die deutschsprachige Krimi-Landschaft.

Das Genre „Kriminalroman“ ist längst aus der Schmuddelecke der Groschenhefte und Trivialliteratur herausgetreten und ins seriöse Feuilleton gerückt. Denn kaum eine andere Literaturgattung ist derart aufnahmefähig für die zugleich unterhaltsame und ernsthafte Diskussion gesellschaftlicher und moralischer Probleme. Längst fesseln nicht mehr reine Rätselkrimis wie einst die von Edgar Wallace das spannungshungrige Publikum. Heutige Krimiliteratur taucht ein in die gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart.

So spielen bei dem schwedischen Autor Henning Mankell die negativen Seiten der Globalisierung eine zentrale Rolle, wenn diese etwa in Form osteuropäischer Mafia oder politischer Killerkommandos ins beschauliche Südschweden schwappen. Und im deutschen „Tatort“ bilden zeitnah Themen wie NS-Vergangenheit, Sextourismus oder schulische Amokläufe die Folie kriminalistischer Aufklärung.

Im Krimi beobachtet die Gesellschaft sich selbst

Nach dem Urteil des Germanisten und Krimi-Forschers Jochen Vogt hat sich der Krimi „zu einem Instrument entwickelt, mit dem die Gesellschaft sich selbst beobachten kann – gerade auch dort, wo sie sich immer weniger versteht.“ Dazu gehört ganz sicher auch der Umgang mit Religion, zumal in Formen fundamentalistischer Entschiedenheit bis hin zur Gewaltbereitschaft: Krimis haben schließlich Konflikte zum Inhalt, nicht Harmonie.

Besonders seit dem New Yorker Attentat vom 11. September 2001 gerät islamistisch begründeter Terror in den Fokus von Romanautorinnen und Autoren wie John Updike („Terrorist“), Christoph Peters („Im Haus des Krieges“) oder Hilal Sezgin („Mihriban pfeift auf Gott“).

In diese Reihe gehört auch Yassin Musharbashs Roman „Radikal“, aber er weitet die Perspektive aus. Klarer als in anderen Romanen erscheinen nicht nur die Gotteskrieger als Repräsentanten ihrer Religion, sondern auch moderate Muslime und Musliminnen, die das Attentat als „hijacking“, als Kapern ihres eigenen Glaubens durch die Radikalen erleben. Wie die junge Mitarbeiterin des Ermordeten, die kaum mehr für ihn beten kann, weil ihre religiöse Sprache sie zu sehr an die der Militanten erinnert. Diese Vielschichtigkeit macht den besonderen Reiz dieses Buches aus.

Die Welt ist auf dem Weg zur religiösen Durchmischung

Auffallend ist, dass die meisten dieser Krimis in westlichen Ländern spielen, nicht in den klassischen muslimisch geprägten Ländern des nahen und mittleren Ostens. Eine Krimikultur entwickelt sich dort erst langsam, und nicht selten auf dem Umweg über westliche Verlage und Autoren. Selbst der prominente algerische Krimi-Autor Mohammed Moulessehoul, in dessen Werken die unheilige Allianz von Religion und Gewalt durchaus eine Rolle spielt, hat seine Werke auf Französisch und unter dem Pseudonym „Yasmina Khadra“ veröffentlicht, um der algerischen Zensur zu entgehen.

Die bemerkenswerten Krimis um den Ermittler Omar Jussuf in Palästina stammen von dem englischen Journalisten Matt Benyon Rees, der einst als Zeitungs-Korrespondent in Israel und Palästina gearbeitet hat. Und das zutiefst vom traditionalistischen Islam der Wahabiten geprägte Saudi-Arabien wird zum Schauplatz von Krimis der amerikanischem Autorin Zoe Ferraris, die als Ehefrau eines arabischen Mannes länger dort gelebt hat. Ihr Thema ist nicht der Terrorismus, sondern die Zwiespältigkeit einer durch die Scharia bestimmten Gesellschaft. Der ermittelnde Protagonist findet durchaus Ruhe und Sicherheit in der strengen Struktur seines Glaubens. Aber zunehmend nimmt er wahr, dass diese vor allem den Frauen wenig Raum lässt, andere als traditionelle Lebensentwürfe zu realisieren. Das macht die Autorin ohne Polemik, aber mit genauer Beobachtung und Sinn auch für die komischen Seiten des Fundamentalismus sichtbar.

Eines belegt ein Streifzug durch die Krimi-Szene jedenfalls sehr deutlich: Die Welt ist keineswegs auf dem Weg einer fortschreitenden Säkularisierung, sondern auf dem einer religiösen Durchmischung. Alles kommt überall vor. Und so ist es nur konsequent, wenn der Islam immer mehr zum Thema der mit 25 Prozent aller Neuerscheinungen populärsten Literaturgattung, eben des Kriminalromans, wird. Damit aber verstärkt auch Gegenstand öffentlicher Diskussion.

Nach Meinung des Fachjournalisten Tobias Gohlis ist der Krimi heute „die einzige Form von Literatur, in der noch moralische Fragen behandelt werden können.“ Und deshalb eben auch solche, die den Islam in allen seinen Spielarten betreffen.

Islam im Krimi: einige Lesetipps

  • John Updike: Terrorist. Versuch, das Psychogramm eines werdenden Selbstmord-Attentäters in Amerika zu zeichnen (Rowohlt 2006).
  • Christoph Peters: Ein Zimmer im Haus des Krieges. Ein junger Deutscher gerät als Gotteskrieger im Ägypten der 90er Jahre in Haft. Gespräche mit einem deutschen Botschaftsrat zeichnen Weltbild und Motive nach (Btb 2008).
  • Hilal Sezgin: Mihriban pfeift auf Gott. Eine junge Frau fürchtet, ihr Bruder könne islamistischer Terrorist geworden sein (DuMont 2010).
  • Horst Eckert: Sprengkraft. Der Polit-Thriller wagt einen Grenzgang zwischen kriminellem und terroristischem Milieu sowie einer korrupten Politik-Szene (Grafit 2009).
  • Yassin Musharbash: Radikal. Das tödliche Attentat auf einen liberal-muslimischen Politiker offenbart eine tief gespaltene Szenerie zwischen Islamisten, Islamhassern und der deutschen Politik (Kiepenheuer&Witsch 2012).
  • Matt Benyon Rees: Der Verräter von Bethlehem. Ein palästinensischer Ermittler löst Fälle zwischen verwirrten und verwirrenden politisch-religiösen Konfliktlinien (Beck 2008). Weitere Titel um denselben Ermittler: Ein Grab in Gaza (2009); Der Tote von Nablus (2010); Der Attentäter von Brooklyn (2011)
  • Esmahan Aykol: Hotel Bosporus. Eine deutsch-türkische Buchhändlerin ermittelt in Istanbul (Diogenes 2004). Weitere Romane: Bakschisch (2004); Scheidung auf Türkisch (2008).
  • Yasmina Khadra: Wenn die Wölfe träumen. Ein junger Algerier rutscht in die islamistische Szene (Aufbau 2003).
  • Zoe Ferraris: Die letzte Sure. Ermittlungen um den Todesfall einer jungen Frau aus reicher Familie zeichnen ein Bild der vom konservativen Islam geprägten Gesellschaft Saudi-Arabiens (Piper 2010). Weiterer Roman: Totenverse. (2011).

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 13. Februar 2015 in der Rubrik Kultur, erschienen in der Ausgabe , .

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