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Von – 29. Juni 2015

Unfassbar lebendig: Gabriele Wohmann

Sie wollte das Höchste, Beste, das Absolute – und hatte dabei stets das Winzige im Blick. Sie wurde gefeiert, vielfach ausgezeichnet, erhielt das Große Bundesverdienstkreuz. Ihr Interesse freilich galt den Vereinzelten, Traurigen und Überforderten. Am 22. Juni 2015 ist Gabriele Wohmann in Darmstadt gestorben. Zwei ihrer letzten großen Auftritte hatte die Schriftstellerin in Frankfurt.

Foto: Annika Schulz - Rechte: ? Georg Magirius

Foto: Annika Schulz – Rechte: Georg Magirius

Im Mai 2012 schritt sie kurz nach ihrem 80. Geburtstag im Frankfurter Literaturhaus in 90 Minuten durch ihr gesamtes Werk. Ziemlich genau 45 Sekunden hatte sie damit Zeit für jedes ihrer Bücher – durchschnittlich betrachtet. Sie löste die Vorgabe so gelassen und pointiert, dass sie noch nicht einmal die ausgiebigen Lachanfälle im Publikum unterbrechen musste.

Sie galt eben als Meisterin der Lakonie, als „unangefochtene Königin der Kurzgeschichte“. Mehr als 600 Erzählungen hat sie veröffentlicht. Mit ihren auf elegante Weise mäandernden Romanen war sie nicht gerade weniger erfolgreich: „Paulinchen war allein zu Haus“ erzielte etwa mehr als 20 Auflagen. Dazu schrieb sie Essays, Lyrik, Hörspiele. Und auch ihre Filme erreichten mehrere Millionen Augenpaare. In 15 Sprachen ist sie übersetzt.

Vielseitig

Sie habe ihre Themen kaum variiert, hieß es, als die Vielgelesene der 70er, 80er und 90er Jahre nicht mehr diese üppige Aufmerksamkeit erreichte. Eine Rezensentin, die ihr Werk über Jahre begleitete, fand eine Begründung, die auch andere Rezensenten anführten. Offenbar hatte man sich geeinigt, um ihrem vielseitigen Werk gegenüber nicht zu sehr ins Staunen zu geraten.

Ihre frühen Erzählungen, meinte also diese Rezensentin, seien unvergleichlich kurz und gut. Als 2012 „Eine souveräne Frau“, erschien, eine Auswahl an Erzählungen aus mehr als fünf Jahrzehnten, meinte eben jene Kritikerin: Gerade Wohmanns zuletzt verfassten Erzählungen seien gut – und lang. Allerdings: „Ein unwiderstehlicher Mann“, ihre allererste Story und umfangreich, sei ebenfalls gut.

Rauschhaft

Wohmann war eben eine Frau, die nicht nur Männer verwirren konnte. Jeglicher Schematisierung entzog sie sich. Feministin? „Mein Vater und Großvater waren Feministen“, sagte sie vergnügt und schenkte dem Besucher ein weiteres Glas Sherry oder Chablis ein.

„Ein Haus ohne alkoholische Getränke hielte ich nicht aus“, kommentierte sie das euphorisierte Agieren mit Flaschen. Seit Jahrzehnten trank sie keinen Alkohol, jedoch: Sie habe allerbeste Erinnerungen an die einstigen Rauschzustände, mit denen sie der Sehnsucht nach dem Grenzenlosen gefolgt war.

Diszipliniert

Sie arbeitete diszipliniert, ohne damit auch nur in die Nähe des von ihr verhassten Zustands des Fanatischen zu geraten. Bis zuletzt schrieb sie. „Wenn da nicht diese Faulheit, diese Lähmung wäre“, sagte sie manchmal. Und begeisterte sich fast im selben Atemzug für Genusszustände, ihre kunstvoll über den Tag verteilten kleinen Oasen.

Diese durfte man sich niemals zu klein vorstellen: So maß sie ihren Eiskonsum nicht in der gewöhnlichen Einheit Kugel, sondern nach Bottichen. „Aber das Salzige darf auch nicht fehlen.“ Pause. „Sie sehen: Zu allem, was ich sage, fällt mir etwas Gegenteiliges ein.“

Foto: Jule Kühn - Rechte: Georg Magirius

Foto: Jule Kühn – Rechte: Georg Magirius

Entschieden

Entschieden war sie, klar und setzte wirkungsvoll Punkte. Sie galt als unbestechlich. Sprach man über ihre Bücher, wurde sie rasch zur Fragenden, hörte zu. Ihr Werk könne vermutlich ohnehin am besten für sich selber sprechen, meinte sie. Aufregung produzieren, um künstlich Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, das überließ sie anderen. Das organisierte Literaturgeschehen karikierte sie in Satiren wie „Büchner war auch nicht drin“.

Komisch

Man kann dabei an eine Abrechnung denken: Obwohl über Jahrzehnte davon gesprochen wurde, hat sie den von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergebenen Büchnerpreis nicht erhalten, die hierzulande renommierteste Literaturausszeichnung. Abrechnend klingt das dann aber gar nicht, weil ihre Lust am Witz alles Bedrückende augenblicklich entwaffnen und in der von ihr so bezeichneten Komik des Scheiterns auflösen konnte.

Eher taten sie ihr fast schon leid, die nach Aufmerksamkeit gieren – aber das geschah nicht von oben herab. Denn nie hätte sie jemanden ausgelacht, der sich schräg verhält, nur weil er im Leben auf mehr als diese furchtbar pädagogisierenden und knapp dosierten Portionen an Zuwendung hofft. Die Schrägen waren ihr ohnehin am liebsten.

Himmlisch

In der Evangelischen Akademie Römer9 in Frankfurt zog die vermeintlich Vergessene 2011 bei einer Lesung unter Leitung von Ute Knie fast 200 Menschen an. Und das ausgerechnet mit einem Thema, das im Debattengeschehen nun überhaupt nicht angesagt ist, weil es – wie soll man sagen? – themenbehandlungstechnisch untauglich ist: Es ging um Himmelsträume, eine Lesung aus „Sterben ist Mist, der Tod aber schön“.

Sie pflege ihren Kinderglauben, sagte Wohmann. Und schwärmte von italienischem Essen als Vorgeschmack des Ewigen, von den richtigen Spielsachen im Jenseits, von Käse- und Apfelkuchen und der Weite des Meers, an das sie schon als Kind gereist war.

Lebendig

In der Stadt, in der sie als Studentin Adorno gehört hatte, sprach sie fast mädchenhaft und auf gekonnte Weise spielerisch: hingegeben wirkte die große Realistin, die Chronistin der Normalität, die Distanzierte, die Kühle, die mit dem scharfen, genauen und bösen Blick – oder welche Etikette man ihr auch immer verpasst hatte, um dadurch das aufwühlend Lebendige, das sie mit ihrem Schreiben berührte, womöglich auf Abstand zu halten. Um somit wiederum selbst distanziert bleiben zu können und nicht etwa in Begeisterung zu geraten, weil solch ein Zustand – zum Beispiel – verletzlich machen kann. Nur: Wem oder was war sie denn hingegeben?

Grenzenlos

„Alle eure Dinge lasset in der Liebe geschehen.“ In dem wenige Jahre vor ihrem Tod veröffentlichten Essay „Der Vater meines Vaters“ erzählt sie von Großvater und Vater, mit denen sie dieser biblische Satz verbindet. Ihr Großvater war Gründer eines Diakonievereins, ihr Vater hatte ihn fortgeführt. Wenn man sie aber fragte, was dieser Satz für sie bedeute, sagte sie nichts. Erzählt hat sie davon grenzenlos.

Schon in der Kindheit immer: Ah, jetzt wird die Landschaft flacher, jetzt kommt bald das Meer! Und dann die wahnsinnige Hochspannung bis zum letzten Deich. Und dann, das Meer: riesig. Unheimlich. Das Meer ist ja nicht so eine Spielwiese, wie die Leute es daraus machen mit dem Surfen und dem ganzen Theater, den sie mit dem Meer veranstalten. Es ist eigentlich eine gigantische und menschenfeindliche Macht. Es ist einfach etwas total Anderes als sonst üblich: Landschaft. Landschaft, die immer so weiter geht, mitten drin im Binnenland. Ich habe früher immer schon gedacht: Darmstadt liegt mir viel zu sehr im Inneren. Ist viel zu weit entfernt vom Meer. Meer ist dann ein Schlusspunkt und auch ein Anfang. Der Anfang von etwas, etwas ganz Anderem.“

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 29. Juni 2015 in der Rubrik Kultur, erschienen in der Ausgabe .

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Gabriele Wohmann - Sehnsucht nach dem ganz Anderen - das Meer anhören

Georg Magirius ist Theologe und Schriftsteller und Kolumnist bei "Evangelisches Frankfurt". Mehr unter www.georgmagirius.de.