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Von – 9. November 2015

„Hessen verschleppt die Terror-Aufklärung“

Lügen, Seilschaften, Ungereimtheiten: Ein Podium diskutierte auf Einladung der Frankfurter Kirchen über Vertuschungen des Hessischen Verfassungsschutzes bei der Verfolgung der Morde der rechtsextremen Terrororganisation NSU. Auch seitens der Politik gebe es in Hessen mangelnden Aufklärungswillen.

Der Mitarbeiter des Hessischen Verfassungsschutes, Andreas Temme (rechts) war im Raum, als in einem Kasseler Internetcafé Halit Yozgat ermordet wurde. Doch er will weder etwas gesehen noch gehört haben. Foto: Fredrik von Erichsen/dpa

Der Mitarbeiter des Hessischen Verfassungsschutzes, Andreas Temme (rechts) war im Raum, als in einem Kasseler Internetcafé Halit Yozgat ermordet wurde. Doch er will weder etwas gesehen noch gehört haben. Foto: Fredrik von Erichsen/dpa

Als Halit Yozgat vor bald zehn Jahren in seinem Kasseler Internetcafé ermordet wurde, saß ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes im selben Raum. Andreas Temme will jedoch weder etwas gehört noch gesehen haben. Bis heute tischt er nach Ansicht vieler, die den Prozess kritisch beobachten, nur Lügen auf und wird dabei von staatlichen Stellen gedeckt.

Die Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses des Thüringer Landtags, Dorothea Marx, hält das für einen „Staatsskandal“. Temme sei eine Schlüsselfigur, und wenn sie sehe, wie die Behörden mauern, dränge sich ihr die Frage auf: „Hatten wir hier betreutes Morden?“

Um die besondere Rolle, die dabei gerade das Land Hessen spielt, ging es bei einer Informationsveranstaltung „Verschleppte Aufklärung“ in Frankfurt, die die Kirchen zusammen mit NSU-Watch Hessen und der Martin-Niemöller-Stiftung organisiert hatten. In Thüringen zum Beispiel könne der Verfassungsschutz kritischen Anwälten und Politikerinnen die Akteneinsicht nicht verwehren. In Hessen dagegen blockiere er systematisch – mit Billigung des Parlaments.

„In Hessen mauern Teile der Exekutive wie nirgendwo sonst“, bestätigte auch der Journalist Dirk Laabs. Bei seinen Recherchen sei deutlich geworden, welch große Rückendeckung Temme von höherer Stelle genießt. Selbst die Justiz und die Polizei würden vor dem Verfassungsschutz kuschen, was seiner Ansicht nach an „alten Seilschaften, die in Hessen besonders ausgeprägt sind“, liegt. Sie sorgten dafür, dass Akten vernichtet und Mitglieder des Untersuchungsausschusses angelogen werden können.

Die Pröpstin für Rhein Main, Gabriele Scherle, betonte, es sei „Aufgabe und Verpflichtung der Kirche“, sich Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus oder Islamophobie entgegenzustellen. Deshalb hatte sie zu dem Informationsabend in der Matthäuskirche angeregt. Ihr sei es ein Rätsel, dass die Aufklärung der Mordserie der Terrororgansiation Nationalsozialistischer Untergrunds (NSU) auf der Stelle tritt, obwohl es „uns alle und die gesamte Gesellschaft betrifft“.

Dafür hat auch die Theologin nur eine Erklärung: „Beim hessischen Verfassungsschutz und der Landesregierung fehlt der nötige Wille.“ Davon geht auch der Nebenklagevertreter der Familie Yozgat im Münchener NSU-Prozess, Alexander Kienzle, aus. Trotz zweijähriger Verhandlungen beschäftige alle noch immer die Frage: „Warum lügt Temme, warum gibt er nicht preis, was er preisgeben könnte?“

Seit 2011 sei erwiesen, dass Halit Yozgat Opfer einer rassistisch motivierten Mordserie geworden sei und der hessische Verfassungsschutzmitarbeiter Temme dabei ein „Tatortzeuge und wichtiges Bindeglied“ war. „Vor Gericht geht nichts weiter“, so das traurige Fazit von Anwalt Kienzle, dem der hessische Verfassungsschutz maßgebliche Dokumente vorenthält. Ihm und der Familie Yozgat bleibe nur die „Hoffnung, dass endlich die Politik tätig wird“. Sonja Brasch vom Rechercheprojekt „NSU-Watch Hessen“ ist aber auch in dieser Hinsicht eher pessismistisch. „In Hessen wird von offizieller Seite die Existenz einer rechten Szene bestritten.“

Als Obmann der CDU/CSU im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages ist Clemens Binninger nicht nur mit „zwölftausend Leitzordnern“, sondern auch mit einem bundesweiten „Berg von Widersprüchen und Merkwürdigkeiten“ konfrontiert. So habe man vor 1998 Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe bei Straftaten immer wieder erwischt. „Es kann nicht sein, dass sie dann in den Jahren bis 2011 ohne aufzufallen mordend und raubend durch Deutschland ziehen“, findet  der Politiker. „Das wäre in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig.“

Zum Weiterlesen: Dirk Laabs und Stefan Aust: Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie der NSU, Pantheon-Verlag 2014.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 9. November 2015 in der Rubrik Stadtkirche, erschienen in der Ausgabe , .

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