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Von – 5. November 2015

Weggehen ist normal

055„Mein Vater war ein Wandersmann und mir steckt’s auch im Blut“ – das alte Volkslied sagt eigentlich schon alles: Migration, das Wandern, gehört zum Menschsein wie das Atmen. Gott hat den Menschen so geschaffen, mit dem Verlangen, aufzubrechen und zu schauen, wie es anderswo ist.

Thomas W. Stephan ist Pfarrer in der Paul-Gerhardt-Gemeinde in Niederrad. Foto: Rolf Oeser

Thomas W. Stephan ist Pfarrer in der Paul-Gerhardt-Gemeinde in Niederrad. Foto: Rolf Oeser

Die Bibel ist selbst so etwas wie ein Wanderführer: Sie erzählt von Menschen auf dem Weg, angefangen bei dem – nicht ganz freiwilligen – Auszug aus dem Paradies bis zu den Reisen der Apostel, die das Christentum in der ganzen Welt verbreiteten. Gott schickt Abraham auf eine ungewisse Reise und verbindet damit das Versprechen, ihn und seine Nachkommen selbst zum Segen zu machen. Josefs Brüder kommen aus Hunger nach Ägypten und bleiben dann dort. Moses flieht vor Verfolgung und findet Aufnahme bei einer Beduinenfamilie.

Das Volk Israel flieht aus der Unterdrückung durch die Wüste und das Meer ins Ungewisse, aber mit der Zusage Gottes auf eine bessere, freiere Zukunft. König David muss fliehen und wird als Söldner Arbeitsmigrant bei den Philistern. Ruth geht mit ihrer Schwiegermutter zurück in deren Heimatland und heiratet dort. Jesus wird unterwegs geboren und muss später mit seiner Familie vor politischer Verfolgung fliehen.

Migration hat sehr verschiedene Motive: Neugier, Not, Hunger, Verfolgung, Familienangelegenheiten, Arbeit. Die Gründe, warum sich jemand auf den Weg macht, sind so vielfältig wie die Menschheit selbst. Die Unterteilung in Schubladen – politisch verfolgt, Wirtschaftsflüchtling, erwünschte Zuwanderung in den Arbeitsmarkt – ist verfehlt. Außerdem wird dabei der Blick auf die eigene Verantwortung an der Misere oft ausgeblendet. Es wird an Symptomen herumlaboriert, anstatt Ursachen ernsthaft anzugehen. Nicht der Flüchtling ist das Problem, er ist Opfer von Krieg, Ausbeutung, Naturkatastrophen und ökonomischer Unterdrückung. Flucht ist die Folge von Problemen, nicht das Problem selbst. Das Gegeneinander- Ausspielen der verschiedenen Aspekte halte ich für unerträglich. Es geht um Menschen, immer und jetzt ganz konkret um Menschen in Not, und es muss alles getan werden, was nötig ist, um zu helfen.

Zwischenstation auf dem Weg: Zwei Männer sitzen auf ihren Feldbetten, während die Presse die Flüchtlingsunterkunft in der ehemaligen Rundschau-Druckerei in Neu-Isenburg besichtigt. Foto: Frank Rumpenhorst/dpa

Zwischenstation auf dem Weg: Zwei Männer sitzen auf ihren Feldbetten, während die Presse die Flüchtlingsunterkunft in der ehemaligen Rundschau-Druckerei in Neu-Isenburg besichtigt. Foto: Frank Rumpenhorst/dpa

Und dennoch ist Flucht nur ein Spezialfall von Migration. Zwar ein im Moment sehr brennender und für viele Menschen mit sehr tragischen Folgen. Aber eine Verengung auf diesen Aspekt verkennt die Geschichte der Menschheit und das Menschsein selbst. Die größeren Zusammenhänge außer Acht zu lassen, öffnet Tür und Tor für Populismus und eine Instrumentalisierung der Diskussion für eigennützige politische, gesellschaftliche oder religiöse Interessen.

Ein unverkrampfter und angstbefreiter Umgang mit Migration könnte uns hingegen gelassener werden lassen, die Angst vor Veränderung nehmen. Die aufnehmenden Gesellschaften hätten nicht mehr das Gefühl, die eigene Identität und Lebensweise sei durch „zu viele“ Flüchtlinge bedroht. Wir könnten das Ganze couragiert angehen und uns für Lösungen einsetzen, statt nur Auswirkungen zu verwalten. Derart befreit brauchen wir auch die schwierigen Seiten solcher Herausforderungen nicht zu fürchten. Sie sind dann Aufgaben, nicht unüberwindbare Lasten.

Deutschland und eigentlich jedes Land, das Flucht und Vertreibung aus der eigenen Geschichte kennt, hat hier eine besondere Verantwortung, und zwar nicht aus schlechtem Gewissen, sondern weil aus der Vergangenheit Lehren gezogen wurden, und dann als Gebot der Menschlichkeit. Ob aus Neugier auf Neues oder aus Liebe oder notgedrungen auf der Flucht vor Krieg, Hunger und Zerstörung – immer ist Migration ein Aufbruch ins Ungewisse, verbunden mit Ängsten und Unsicherheiten, aber auch mit Hoffnungen, Erwartungen und Träumen. Und immer geht es um die Suche nach einem besseren Leben, einer hoffnungsvolleren Zukunft.

Christinnen und Christen vertrauen dabei auf den Beistand Gottes und seine Zusage: „Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein.“ Darin liegt die Zuversicht, dass es am Ende gut wird, und der Aufbruch zum Segen wird für alle, auch wenn der Weg gefährlich ist und durch Tiefen führt.

P.S.: Eine faszinierende Videoanimation der weltweiten Migrationsbewegungen der letzten 2600 Jahre finden Sie hier.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 5. November 2015 in der Rubrik Ethik, erschienen in der Ausgabe , .

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