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Von – 12. Juni 2016

Nachbarschaft: Nächste wider Willen

Eine Wohngegend kann man sich womöglich aussuchen, Nachbarn höchstens ausnahmsweise. Von daher stellt sich die Frage nicht, ob man am Klingelschild nebenan lieber „Boateng”, „Gauland” oder „Meier” lesen möchte.

Foto: Tom Bayer/Fotolia.com

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Nachbarschaft ist immer ein Verhältnis auf Gegenseitigkeit und gerade bei hoher Fluktuation eine starke soziale Herausforderung für alle.  So lange die Bewohnerinnen ihre Miete zahlen und nicht eklatant gegen die Hausordnung verstoßen, dürfen sie nebenan wohnen. Und sie müssen auch umgekehrt damit leben, dass ich hier wohne.

Man kann auch sagen: Nachbarschaft ist ein ernstes Bewährungsfeld für die Nächstenliebe, denn die Nachbarn sind Nächste, ohne einander nahe zu stehen, sehr eigenartige Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen. Es gibt die Übergriffigen und Aufdringlichen, die Schweigsamen und die Netten, und alle haben ihre eigene Lautstärke, ihre eigenen Gerüche und Gewohnheiten.

Nachbarschaftsstreitigkeiten entzünden sich oft daran, dass eine Komfortzone verletzt wurde. In einem Mietshaus braucht es dazu nicht viel, und selbst unter Eigenheimbesitzern genügen unter Umständen ein paar überhängende Zweige, um über Jahre Unfrieden zu haben. Nicht wenige ältere Menschen tun sich obendrein schwer damit, die Veränderungen in der Nachbarschaft zu bewältigen. Sie verlieren ihre Kontakte und fühlen sich nach und nach entfremdet.

Das Unvermeidliche der Nachbarschaft hinzunehmen, setzt voraus, die Nächsten als Mitmenschen wahrzunehmen, die ebenso wie man selbst ohne Wenn und Aber ein Recht auf Anwesenheit haben, auch wenn man sich gegenseitig nicht unbedingt sympathisch findet.

Schwerer wird es mit dem nächsten Schritt: Ich erlaube mir kein Urteil über die Nachbarn, denn es kann völlig verkehrt sein, es zementiert außerdem meine Einstellung und blockiert den Kontakt. Den Stempel, den ich dem Flurnachbarn verpasst habe, wird er kaum jemals wieder los, und ins Gespräch kommen wir dadurch auch nicht.

Am schwierigsten ist der dritte und wichtigste Schritt. Es gilt, aus dem passiven Erleiden der Nachbarschaft herauszukommen, denn Nachbarschaft funktioniert nur im aktiven Miteinander. Gelingende Nachbarschaft gibt es nicht ohne soziale Interaktion. Und da hat man als Nachbarin und Nachbar selbst eine Hol- und Bringschuld, sprich: Man muss den ersten Schritt tun, aufeinander zugehen, reden, sich die Fremden vertrauter machen – auch wenn das mehr als einen Anlauf kostet.

Die kleinste Übereinkunft in der allseitigen Teilhabe an der Nachbarschaft ist die Verständigung auf die negative Fassung der Goldenen Regel: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.” Schutzsphären der Nachbarn und Nachbarinnen können damit ausgehandelt werden. Das ist mitunter schon viel, aber es reicht natürlich nicht.

Die Jesus-Fassung der Goldenen Regel lautet: „Alles, was du willst, dass es die Leute dir tun, das tu ihnen auch.” Hier geht es um den Mehrwert der Nachbarschaft: Tüten hochtragen, auf die Kinder aufpassen, den Rollladen des älteren Herrn im Auge behalten, ein Schwätzchen halten, schauen, dass noch alle da sind, Neue umgehend in die Gepflogenheiten mit hineinnehmen. Das ist eine eigene Art der Sozialversicherung: Man hilft und achtet aufeinander, wie man es vermag, schließlich kann man nie wissen, wozu man die anderen noch einmal brauchen wird. Dann klappt’s auch mit Boateng, Gauland und Meier.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 12. Juni 2016 in der Rubrik Lebenslagen, erschienen in der Ausgabe , .

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Wilfried Steller ist Theologischer Redakteur von "Evangelisches Frankfurt" und Pfarrer in Frankfurt-Fechenheim.