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Von – 17. September 2016

Von der Freiheit im Wohnwagen

Ein Abend im Haus am Dom mit besonderen Frankfurter Traditionalisten: Schrottsammlern, Artistinnen und Lebenskünstlerinnen.

Es ist einer der seltenen Momente in Frankfurt, in dem sich Lebenswelten ineinander schieben, die ansonsten einfach parallel nebeneinander existieren. An einem Spätsommerabend sind alle Stühle im großen Giebelsaal des Hauses am Dom besetzt. Teenager sind gekommen und Rentnerinnen, ein Zweijähriger mit blondem Stachelhaar streift durch die Reihen, manche Männer tragen Pferdeschwanz und manche Frauen rot gefärbtes Haar.

Auch wer als Schausteller fiel unterwegs ist, schätzt es, einen festen Standort zu haben. Inzwischen haben hier alle Häuser Toilette, Strom und fließendes Wasser. Foto: Rolf Oeser

Einmaliges Wohngebiet: Der Standplatz an der Bonameser Straße in Escherseheim. Doch es ist fraglich, wie lange es ihn noch gibt. Foto: Rolf Oeser

Seit mehr als sechs Jahrzehnten gibt es den Wohnwagenstandplatz Bonameser Straße im Frankfurter Norden, eingeklemmt zwischen der Autobahn A661 und der Homburger Landstraße. Er bildet seit 1953 eine Nische fürObdachlose, Ausgebombte, Schrotthändler, Artisten und auch einige Sinti, die aus dem Stadtgebiet auf das Ödland geschickt wurden. Viele Menschen im Publikum sind ihre Kinder, Enkel, Urenkel. „Das ist jedem Menschen seine eigene Freiheit, so zu leben, wie er möchte“, sagt Adi Fletterer. Die Familie Fletterer war viele Jahrzehnte berühmt für ihre halsbrecherischen Darbietungen auf dem Hochseil. „Doch wir Zirkusleute sind eine aussterbende Art.“

Adi Fletterer lebt seit seiner frühen Kindheit in der Bonameser Straße, heute sitzt er mit Sonja Keil vom Sozialdienst der Diakonie Frankfurt auf dem Podium. Sonja Keil und die Studienleiterinnen und Studienleiter im Haus am Dom drücken das mit der Freiheit etwas anders aus als Adi Fletterer. „Vergessene Orte – Parallele Lebenswelten: Kultur zwischen Tradition und Moderne am Beispiel des Wohnwagenstandplatzes Bonameser Straße“ steht auf dem Flyer. Es sei ein besonderes Wohngebiet und wohl einmalig in Deutschland, sagt Sonja Keil.

Stadtgeschichte mal zwei also, als Powerpoint-Präsentation und mit ihren Protagonisten aus Fleisch und Blut, die sehr lustige, aber auch sehr traurige Geschichten live erzählen. Da steht ein Mann im Publikum auf, lässt sich das Mikrofon geben, und berichtet, wie die Kinder aus der Bonameser Straße bis in die 80er Jahre hinein täglich von ihren Klassenkameraden drangsaliert wurden. „Die Lehrer sagten: ‚Auf dem Schulhof lasst ihr die Zigeunerkinder in Ruhe, was vor dem Tor passiert, ist uns egal‘“. Die Leute aus dem „Zigeunerlager“. Ein Begriff, der im Stadtteil kursierte, und der den Bewohnern verhasst ist. Erinnert er sie doch an die düstere Vergangenheit, an die Deportationen durch die Nazis, an die Verachtung der Gesellschaft, von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Ein Trauma, dass sie an ihre Kinder und Kindeskinder weitergegeben haben.

Sonja Keil macht auf dem Wohnwagenstandplatz in Eschersheim Gemeinwesenarbeit. Foto: Rolf Oeser

Sonja Keil von der Diakonie Frankfurt macht auf dem Wohnwagenstandplatz in Eschersheim Gemeinwesenarbeit. Foto: Rolf Oeser

Längst hat die offizielle Stadtgeschichtsschreibung die Bewohnerinnen und Bewohner und ihre besonderen Biografien entdeckt. Ihre Geschichten sind seit 2014 Teil der „Bibliothek der Alten“ im Historischen Museum Frankfurt. „Lange wurden die Traditionen von Landfahrern, Schaustellern und den so genannten Jenischen – marginalisierten Handwerkern wie Kesselflickern, Korbmachern, Schrotthändlern – in den Geschichtsbüchern ignoriert“, sagt Keil. „Dabei ist zum Beispiel das Schrottgewerbe ein wichtiger Teil bundesrepublikanischer Geschichte.“ Noch in den 70er und 80er Jahren Geborene kennen den Ruf „Alteisen, Lumpen, Papier“, der durch die Straßen hallte, manchmal begleitet von Glockengeläut oder Flötenspiel.

Gebannt hören die Menschen im Publikum, solche aus echten Häusern und jene aus den Wohnwagen, wie Sonja Keil über Entwurzelte als soziale Folgeerscheinungen aus den Kriegen der Geschichte spricht, vom Dreißigjährigen Krieg bis zu Kaiserreich und  Zweiten Weltkrieg. Ernst klingt das, und wichtig. Ein Beamer wirft Fotos der Wohnwagensiedlung aus den 60er und 70er Jahren an die Wand. Kinder turnen an einem Klettergerüst, eine alte Frau sitzt in einem Gartenstuhl aus Plastik, eine Gruppe Hochseilartisten scheint zu schweben, als Menschenpyramide. „Das da ganz oben, das ist meine Mutter“, ruft ein Mann. „Und da waren wir auf Freizeit in Hofgeismar.“ Erinnerungen werden wach.

Da ist sie, die Freiheit, ganz anders zu leben als die meisten. In der Bonameser Straße ist sie bedroht. Stirbt ein Bewohner, zieht eine Bewohnerin weg, reißt die Stadt Frankfurt die Unterkunft ab. Niemand darf mehr dorthin ziehen. Es wird etwas verloren gehen in Frankfurt.

Zum Weiterlesen: „Wir sind hier eingewurzelt“

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 17. September 2016 in der Rubrik Stadtkirche, erschienen in der Ausgabe .

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Anne Lemhöfer interessiert sich als Journalistin und Autorin vor allem für die Themen Kultur, Freizeit und Gesellschaft: www.annelemhoefer.de.

Kommentare zu diesem Artikel

  • Brigitte Babbe schrieb am 17. September 2016

    Liebe Anne Lemhöfer, aufmerksam und sehr interessiert lese ich Ihre Beiträge.
    Sie schreiben zu Herzen gehend. Und damit meine keinesfalls so etwas wie Rührseligkeiten. Gerade habe ich Ihren Artikel „Von der Freiheit … “ gelesen und mich u. a. darüber gefreut, dass ich Sie und Ihre Art zu schreiben erkannt habe ohne zu gucken. EF bekommt mit Ihnen einen neuen erfreulichen Drive. Weiter so und mehr.
    Brigitte Babbe
    ERV-Vorstandsurgestein (neuer Titel: gerade erfunden)