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Von – 15. November 2016

Armut ist Kindern vor allem eines: peinlich

Die deutsche Wirtschaft brummt. Trotzdem steigt die Zahl der Kinder, die in Armut aufwachsen, an. Nach den jüngsten Berechnungen der Bertelsmann-Stiftung lebten 2015 im Bundesdurchschnitt 14,7 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Familien, die staatliche Grundsicherungsleistungen beziehen. In Frankfurt waren es sogar 22 Prozent, also mehr als jedes fünfte Kind.

Gemeinsames Kochen im Jugendhaus: Viele Kinder mit Armutserfahrungen bekommen zuhause kein gesundes Essen. Foto: Rolf Oeser

Gemeinsames Kochen im Jugendhaus: Viele Kinder mit Armutserfahrungen bekommen zuhause kein gesundes Essen. Foto: Rolf Oeser

Aus dem Freigelände eines Frankfurter Kindergartens dringt fröhliches Geschrei, im Flur zieht sich ein etwa fünfjähriges Mädchen warm an. Die lange, beige Jacke ist dem Kind deutlich zu groß. Wahrscheinlich geerbt. Oder auf Zuwachs gekauft. Das Mädchen läuft hinaus, um mit den anderen Kindern zu toben.

„Wir sehen das hier öfter“, sagt auch Ayhan Toprak vom Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit und Leiter eines Jugendhauses. Letztens sei ein Mädchen mit hochhackigen Schuhen gekommen. Nachmittags. „Die Schuhe waren eindeutig von der großen Schwester“, sagt Toprak. Irgendwo im Schrank hat er für solche Fälle ein paar abgelegte Kleidungsstücke, Schuhe, Jacken. „Wir haben ihr ein Paar Sportschuhe gegeben, die passten. Damit konnte sie sich wenigstens richtig bewegen. Aber die anderen dürfen so etwas nicht mitkriegen. Sonst würden die Betroffenen nichts annehmen.“

Kein eigenes Bett, kein Schreibtisch

Armut heißt nicht nur zu wenig Geld für passende Kleidung, für gesundes Essen oder eine Kinokarte. Armut unter Kindern und Jugendlichen ist vor allem peinlich. „Keiner outet sich freiwillig“, weiß Toprak. Christian Telschow, Bereichsleiter offene Kinder und Jugendarbeit im Evangelischen Verein für Jugendsozialarbeit, beschreibt es so: „Kinder verheimlichen diese Situation, reagieren beschämt, zum Teil aggressiv. Sie ziehen sich zurück, manche werden verhaltensauffällig.“ Armut erlebt Telschow nicht nur bei wenig Geld zur Befriedigung der Grundbedürfnisse wie Essen, Kleidung, Hygiene, Bildung. „Armut bedeutet oftmals auch fehlende Rückzugsmöglichkeiten in zu kleinen Wohnungen, kein eigenes Bett, keinen Schreibtisch. Und kaum Teilhabechancen an den Aktivitäten der Gleichaltrigen.“

In den Kinder- oder Jugendhäusern des Vereins werden gemeinsame Mahlzeiten, Hausaufgabenbetreuung, PC-Arbeitsplätze, diverse Workshops, Tischtennis oder Tischfußball, in den Ferien Ausflüge und Freizeiten angeboten. Herkunft, Religion und Einkommensverhältnisse spielen keine Rolle: „Wir sind für alle offen, feiern Weihnachten genauso wie Fastenbrechen nach dem Ramadan“, sagt Ayhan Toprak. „Und eigentlich machen immer alle mit.“

Manche wissen anfangs nicht, was Salat ist

„Mahlzeiten sind ein Riesen-Thema“, erzählt Torsten Link, Sozialarbeiter und Referent für Öffentlichkeitsarbeit beim Verein. „Manche Kinder wissen anfangs nicht einmal, was Salat ist.“ Oft wird gemeinsam gekocht, über gesunde Ernährung immer wieder diskutiert. Ayhan Toprak holt nach Betriebsschluss bei einer nahegelegenen Bäckerei oft Brot und Brötchen ab, die nicht verkauft wurden. Und gibt sie an Kinder und Jugendliche seiner Einrichtung aus: „Wir achten drauf, dass alles gut verteilt wird“, sagt er. Das Interesse ist groß.

Das Sozialdezernat der Stadt Frankfurt veröffentlichte 2014 einen Bericht zum Thema „Familien – Lebenswirklichkeit und Unterstützungsbedarf“. Demnach ist ein gutes Drittel der Frankfurter Familien armutsgefährdet. Außerdem kommt zur sozialen oftmals auch noch eine räumliche Randlage, also eine zentrumsferne Wohngegend und damit größere Entfernungen zu Arzt, Schule, Beratungs- oder Teilhabeangeboten. „Kinderarmut bedeutet in erster Linie Armut bei Bildung und Teilhabe“, sagt Stefan Schäfer, Geschäftsführer des Frankfurter Kinderschutzbundes. „Die hohen Wohnungskosten in Frankfurt drängen sozial schwache Familien an die Ränder der Stadt. Das erschwert dann zusätzlich den Zugang zu Hilfsangeboten und Teilhabe – für Eltern und Kinder.“ Die Erfahrung zeige, dass Freizeit- und Beratungsangebote im Umkreis von etwa 1,5 Kilometern zu erreichen sein müssen. „Eltern und Kinder bleiben in ihrem Kiez“, so Schäfer.

Babylotsen wollen Eltern früh ansprechen

Hier setzen die sogenannten „Babylotsen“ des Kinderschutzbundes an. „Um Familien in Notlagen möglichst früh an Hilfs- und Beratungseinrichtungen in ihrer Nähe anzubinden“, erklärt Schäfer. Seit 2014 wird in mittlerweile sechs von sieben Frankfurter Geburtskliniken bereits bei der Erstanmeldung allen Familien ein Gesprächsangebot gemacht und beobachtet, wo psycho-sozialer Unterstützungsbedarf herrschen könnte. Denn Bedürftigkeit bei Kindern entsteht nicht nur durch fehlende finanzielle Mittel, sondern auch durch Isolation, Orientierungslosigkeit und Überforderung in den Familien. Und das vom ersten Tag an.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 15. November 2016 in der Rubrik Lebenslagen, erschienen in der Ausgabe , .

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Stefanie von Stechow ist Mutter von vier Kindern und freie Journalistin. Sie schreibt über Themen aus Familie, Bildung und Gesellschaft.