Zeit zum Trödeln hat Christine Hohmann nicht. Die Krankenschwester der Diakonie Frankfurt versorgt Patientinnen und Patienten zuhause. Wie viele Minuten es dauern darf, eine Insulinspritze zu setzen oder von einer Wohnung zur nächsten zu kommen, gibt die Krankenkasse vor.
Freitag 6.30 Uhr, Battonnstraße, Diakoniestation. Christine Hohmann, examinierte Krankenschwester, setzt sich in den kleinen roten Skoda der Evangelischen Hauskrankenpflege und fährt los.
Ihren aktuellen Tagesplan kann sie auf dem Smartphone sehen, das gleichzeitig als Navigationsgerät dient. Im Detail ändert sich ihre Tour je nach Bedarf, aber im Großen und Ganzen ist sie wie auch schon im vorigen Jahr auf derselben Route im Einsatz: Sie übernimmt die Tour 3 durch Niederursel, Praunheim und Heddernheim. Hohmann freut sich über diese Regelmäßigkeit. „So kann man eine Beziehung zu den Patienten aufbauen“, sagt die 57-Jährige.
Sieben Uhr. Christine Hohmann klingelt bei Herrn P., dem sie eine Insulinspritze geben soll. Dafür hat sie laut Krankenkassenverordnung genau vier Minuten Zeit – inklusive ein paar freundliche Worte mit ihm und seiner Frau. Und eines Eintrags in die rote Dokumentenmappe der Diakonie, in der sie jeden Besuch abzeichnen muss. „Das schafft niemand in dieser kurzen Zeit“, sagt Hohmann.
Die Schwester arbeitet zügig, aber nicht hektisch. Sie verabschiedet sich freundlich, und schon geht’s weiter. Acht Minuten Fahrtzeit bis zum nächsten Patienten zahlt die Krankenkasse. „Wieder kein Parkplatz frei“, stöhnt Hohmann. Parkplatzsuche kostet Zeit, in den Pflegesätzen vorgesehen ist das nicht. Zeit ist Geld, in der häuslichen Krankenpflege trifft das im wahrsten Sinn des Wortes zu.
Nach zwei weiteren Kurz-Besuchen steht in Hohmanns Tagesplan eine so genannte „große Pflege“ an. Groß, das bedeutet dreißig Minuten. „Aber die reichen für Frau S. nicht“, weiß die Schwester. Sie ist froh, dass sie, wenn es wichtig ist, auch mal 10 oder 15 Minuten „diakonische Zeit“ dazubuchen kann. Also Zeit für ihre Patientinnen aufbringen, die von den Krankenkassen nicht bezahlt wird.
Hohmanns Arbeitgeber, die Diakonie Frankfurt, bekommt dafür von der Diakonie Hessen ein Prozent des Umsatzes an pflegerischen Leistungen noch einmal zusätzlich zur Verfügung gestellt, das sind rund 25 000 bis 30 000 Euro im Jahr. Nicht viel, aber andere Pflegedienste haben nicht mal das. „Manchmal braucht man einfach mehr Zeit“, sagt Hohmann. „Oder man muss mit Patienten oder Angehörigen über ein dringendes Problem reden. Pflege ist doch mehr als satt und sauber.“
Herr S., der Ehemann der Patientin, öffnet die Tür. „Guten Morgen, was machen wir denn heute?“ fragt er schmunzelnd. „Same procedure as every year!“ Die Antwort der Schwester kommt wie aus der Pistole geschossen, Herr S. lacht. Mit Humor lässt sich so manches besser ertragen.
Christine Hohmann zieht ihren Kittel und Einmalhandschuhe an und wäscht Frau S. auf dem Badewannenrand. Humpelnd und stöhnend geht die Patientin anschließend ins Wohnzimmer und lässt sich auf einen Stuhl fallen. Hohmann nimmt ihr die Verbände ab und versorgt die wunden, roten, angeschwollenen Beine. „Oh, das tut gut“, sagt jetzt Frau S. dankbar. Nebenbei hört sich Hohmann die Nöte des pflegenden Ehemanns an. Er hätte sich nie vorstellen können, dass er im Alter einmal so ans Haus gebunden sein würde.
Nicht nur die „diakonische Zeit“ unterscheidet die Hauskrankenpflege der Diakonie von anderen Pflegediensten. Dem kirchlichen Träger werden auch viele Patientinnen und Patienten zugewiesen, die von Sozialhilfe leben, behindert sind oder schwierig im Umgang. Frau L. in Praunheim zum Beispiel, Hohmanns nächste Station. Frau L. lebt seit zwanzig Jahren alleine. Fast jeden Nachmittag geht sie ins Nordwestzentrum, um dort Bier zu trinken. In ihrer Wohnung stinkt es nach Urin. Hohmann hat an diesem Vormittag bei einem Zwischenstopp für Frau L. Medikamente gekauft, die sie ihr nun vorbeibringt. Außerdem stellt sie eine Waschmaschine an.
Frau L. hebt Anfang des Monats immer ihr ganzes Geld vom Konto ab, um es für Alkohol auszugeben. „Ich kann gerade noch unseren Verdienst an die Diakonie überweisen und Geld für Medikamente abheben“, erzählt Hohmann, die eine Kontovollmacht hat. „Frau L. braucht eigentlich einen gesetzlichen Betreuer, aber ihre Söhne schaffen es nicht, den Antrag zu stellen.“ Auch darum kümmert sich dann die Krankenschwester.
Nicht bei allen Menschen, die medizinische Hilfe brauchen, ist es eben damit auch getan. Zur Grundhaltung der Kirche als Anbieterin von Krankenpflege gehört es laut Geschäftsführer Helmut Ulrich, „über die konkrete Pflege hinaus den ganzen Menschen zu sehen und Verantwortung zu übernehmen, soweit es uns zusteht.“ Auch deshalb lege man in der Evangelischen Hauskrankenpflege in Frankfurt großen Wert auf gut ausgebildete Fachkräfte. 60 Prozent der insgesamt 50 Mitarbeiterinnen seien ausgebildete Kranken- und Altenpflegerinnen, das sei mehr als im branchenüblichen Durchschnitt, sagt Ulrich.
Um diese Qualität zu halten, wird die diakonische Einrichtung jedes Jahr aus Kirchensteuermitteln bezuschusst. Zwar ist der Zuschussbedarf in den vergangenen 15 Jahren deutlich gesunken, doch er beträgt immer noch 250 000 Euro im Jahr. Der Hauptgrund seien die hohen Personalkosten, sagt Ulrich, die sich aus dem, was die Kassen an Pflegeleistungen übernehmen, schlichtweg nicht finanzieren ließen. Daran, dass Krankenpflegerinnen exorbitant verdienen würden, liegt es jedenfalls nicht: Eine examinierte Schwester bekommt in der höchsten Gehaltsstufe nach 13 Dienstjahren 3412 Euro brutto. Immerhin ist Anfang des Jahres das neue „Pflegestärkungsgesetz 2“ in Kraft getreten, das einzelne Leistungen besser vergütet und auch Demenzkranke im Blick hat „Pflege, die den ganzen Menschen im Blick hat, kostet Geld. Die Pflegenden müssen von ihrer Arbeit leben können. Die Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft fangen langsam an, das zu begreifen“, sagt Ulrich.
Es ist jetzt 12 Uhr. Christine Hohmann hat heute keine Patienten mehr, muss aber noch einmal zur Besprechung ins Büro. Sie hat ab und zu im Auto einen Schluck Wasser getrunken, aber ansonsten keine Pause gehabt. Trotz getakteter Zeit und Überstunden schätzt sie ihre Arbeit: „Anders als im Krankenhaus habe ich Einblick in die häusliche Umgebung und kann da auch mal einen Konflikt lösen. Wenn es jemandem schlecht geht, kann ich auch mal zuhören und in den Arm nehmen. In vielen Krankenhäusern sind Patienten bloß Nummern, die durchgeschleust werden. Aber deshalb bin ich nicht Krankenschwester geworden.“
Jetzt freut sie sich erst einmal auf das freie Wochenende, das vor ihr liegt. Sie hat ihrer Mutter versprochen, sie zu besuchen. „Bei uns in der Diakonie werden die freien Wochenenden zum Glück am Anfang des Jahres festgelegt, so kann man seine freie Zeit wenigstens planen“, sagt Christine Hohmann. Sie weiß, dass nicht einmal das in ihrem Beruf eine Selbstverständlichkeit ist.
Krankenpflege bleibt ein Frauenberuf
Mobile Krankenpflege, also die Versorgung von Patientinnen und Patienten in den eigenen vier Wänden, ist ein boomendes Geschäft: Genau 355 614 Krankenschwestern und Krankenpfleger waren laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes im Dezember 2015 deutschlandweit in diesem Beruf tätig, das sind fast doppelt so viele wie noch 1999. Dabei ist die Krankenpflege nach wie vor ein typischer Frauenberuf: Frauen stellen über 85 Prozent des ambulanten Pflegepersonals. Und allen Emanzipationsbeteuerungen zum Trotz deutet auch nichts darauf hin, dass sich das in absehbarer Zukunft ändern wird. Ganz im Gegenteil: Der Anteil der Männer unter den ambulanten Pflegekräften ist zwischen 1999 und 2015 sogar noch gefallen: von knapp 15 Prozent auf nur noch 13 Prozent.