Etwa sechs Millionen Menschen sind deutschlandweit in der Flüchtlingshilfe engagiert. Was treibt sie an? Was hat sich seit dem ersten großen Boom der Willkommenskultur im Sommer 2015 geändert? Was wäre nun notwendig? Der Frankfurter Journalist und Historiker Erhard Brunn hat zum Thema Interviews geführt und in einem Buch zusammengefasst.
Von Ehrenamtlichen bis zum Kirchenpräsidenten bündelt „Über alle Grenzen hinweg“ Portraits und Stellungnahmen von Engagierten in der Flüchtlignshilfe, von christlicher wie muslimischer Seite, aber auch von Menschen ohne Religionszugehörigkeit. Eine ganze Reihe von ihnen war bei der Buchvorstellung in der Petersgemeinde im Nordend zugegen, und so geriet die Veranstaltung schnell zu einem überaus spannenden Austausch von Experten und Initiativträgerinnen unterschiedlichster Herkunft und Profession: Was geht vor in der Stadt, wo stehen wir heute, welche Bedarfe gibt es, wo hakt es?
Deutlich zeigt sich: Eine Willkommenskultur braucht jenseits von christlicher Nächstenliebe und Wohlfahrt die Einbettung in eine Kultur der wechselseitigen Anerkennung. Da so viele Menschen aus ganz unterschiedlichen Milieus in der Flüchtlingshilfe zusammen kommen, prallen manchmal Welten aufeinander. „Erzähl mir nichts vom lieben Gott“ habe man ihr zum Beispiel entgegengehalten, als sie im Rahmen der Aktion „Kein Essen für die Tonne“ ein Tischgebet habe sprechen wollen, erzählt Pfarrerin Heike Seidel-Hoffmann, die für die Diakonie Frankfurt ehrenamtliche Initiativen für Geflüchtete koordiniert. Die positive Seite: Das Engagement für die Geflüchteten hat viele Menschen in Kontakt mit der Kirche gebracht, die weder zu einer Gemeinde gehören noch überhaupt religiös gebunden sind.
Yousif Toma, der in den 1960er Jahren mit seiner Familie aus dem Irak nach Deutschland geflohen ist, findet es problematisch, dass Menschen aus Syrien und anderen Ländern in Deutschland häufig nicht einfach als Menschen, sondern vor allem als Muslime und Musliminnen wahrgenommen werden. Die Zugehörigkeit zu einer Religion sage aber allein nichts über die religiöse Bindung einzelner Menschen aus, auch nicht im Islam. „Erzähl mir nichts vom lieben Gott“ könne insofern ein gutes Motto sein, um Begegnung überhaupt erst einmal zu ermöglichen.
Viel dringlicher als der interreligiöse Dialog seien ohnehin die handfesten Probleme der Integration. Die beginnen oft beim Zusammenhalt in den Familien. An der in Deutschland gewonnen Freiheit würden die Familien von Neuankömmlingen häufig zerbrechen: Kinder und Heranwachsenden lernen die neue Sprache schneller, integrieren sich leichter, machen sich selbständig. Vor allem Väter könnten oft schwer damit umgehen, dass sie sich dann häufig in einer Position der Abhängigkeit von den eigenen Kindern wiederfinden. Bei der Integration helfen könnten gerade diejenigen Migrantinnen und Migranten, die schon länger in Deutschland leben, glaubt Toma. Er selbst habe häufig die beglückende Erfahrung gemacht, verunsicherten Familienvätern beistehen und helfen zu können.
Ähnlich erlebte es Intissar Souei ep Saied, die vor sechs Jahren aus Tunesien nach Deutschland kam. Zwischenzeitlich war sie hauptamtlich als Flüchtlingshelferin engagiert, begleitete Behördengänge, übersetzte und beriet die neu Angekommenen. Heute arbeitet sie ehrenamtlich. Der kulturelle Schock sei bei den meisten Menschen sehr tiefgreifend, weiß sie zu berichten.
„Über alle Grenzen hinweg“, so der Titel von Erhard Brunns Buch, will Impulse geben für die Anstrengungen, die nun folgen müssen, um für die Geflüchteten eine Brücke in die Zukunft schlagen können (Dehm-Verlag 2017, 244 Seiten, 14,95 Euro).
G. Mueller-Debus schrieb am 4. Juni 2017
Ein ganz grosses Problem ist, dass eine Willkommenskultur, die ja eigentlich eine menschliche Gesellschaft auszeichnet, 2015/16 pauschal und indifferent auf saemtliche rd. 1,2 Mio. Fluechtlinge ausgeweitet wurde, u,a. auch auf solche, die mit erklaerten boesen Absichten oder schlicht aus Opportunismus nach Deutschland einreisten. Nicht zu vergessen – so manche Familien reisten gar mit Taxis, mit teueren Smartphones telefonierend, an….was sind denn das fuer Fluechtlinge, fragt man sich da.
Dabei wird oftmals vergessen, dass sich die wirklich Armen ueberhaupt keine Flucht erlauben koennen – und in allererster Linie waeren es doch die, denen ein Willkommen zukaeme….
Volker Boes schrieb am 7. Juni 2017
**Dabei wird oftmals vergessen, dass sich die wirklich Armen ueberhaupt keine Flucht erlauben koennen – und in allererster Linie waeren es doch die, denen ein Willkommen zukaeme….**
Das syrische Ehepaar, welches wir bei uns aufgenommen hatten (die Frau hochschwanger) hat in Idlib ihr gesamtes Hab und Gut verkauft um mit dem Erlös (ca. 6000€) den Weg Deutschland zu finanzieren – inkl. 5000€ für die Schlepper von der Türkei auf eine griechische Insel.
Wie definieren Sie also arm?
BG
G. Mueller-Debus schrieb am 8. Juni 2017
Natuerlich gibt es solche Faelle, wie Sie sie schildern, auch viele. Man kann sie bei aller Tragik jedoch gleichwohl nicht als „arm“ i, e . S. bezeichnen, denn diesen muss gegenuebergestellt werden, dass die grosse Mehrheit potentieller Fluechtlinge ueberhaupt nichts haette, was man verkaufen koennte…..
Dies gilt uebrigens ganz besonders fuer Menschen aus Laendern Sub-Sahara Afrikas. Das wird oft gerne mal vergessen.
Werner Hellwich schrieb am 11. Juni 2017
„Willkommenskultur“ ist ja doch ein Begriff aus der Propaganda.
Sind wir nicht ohnehin gehalten, uns immer gut zu benehmen (GG Sittlichkeit).
Tatsächlich haben wir auch hier ein Buch mit einer möglich und freundlichen, aber einseitigen Sicht auf die großen aktuellen Fragen.
W.H.
Werner Hellwich schrieb am 11. Juni 2017
( Was wir wirklich brauchen, ist das Bedenken der realen Problemlagen: Wir haben aufgrund unserer Werte eine vernünftige Caritas, die aber immer nur dann gut funktioniert, wenn auch der Hilfesuchende selbst diese Maxime sein eigen nennt! )