Christinnen und Christen sollten „selbstbewusst an Überzeugungen festhalten, diese aber zugleich nicht als allgemeingültig durchsetzen wollen“, ist Nikolaus Schneider überzeugt. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland hielt den Festvortrag zum zehnjährigen Jubiläum des Frankfurter Bibelhauses.
Unter der Überschrift „Toleranz und Reformation“ forderte Nikolaus Schneider in seiner Festrede „Respekt-Toleranz“ ein. Das bedeute die Fähigkeit, selbstbewusst an Überzeugungen festzuhalten, diese aber zugleich nicht als allgemeingültig durchsetzen zu wollen. „Außer Christus kennt niemand Gott wahrhaftig und vollständig“, mahnte Schneider. „Wurzelgrund“ einer Respekt-Toleranz, die zu einem friedfertigen Miteinander in der Gesellschaft führe, seien neben dem Vertrauen in eigene Glaubensüberzeugungen auch die Demut gegenüber den eigenen Wahrheitserkenntnissen und die Achtung gegenüber den Überzeugungen und Erkenntnissen anderer.
Selbstbewusstes Vertrauen in die eigenen Glaubensüberzeugungen zu haben, sei heute für viele Christinnen und Christen die größte Herausforderung, sagte Schneider. Deshalb seien Orte wie das Frankfurter Bibelhaus so wichtig, sie stärkten die christliche Identität.
Die Reformation hatte auch dunkle Seiten
Im Vorfeld des Reformationsjubiläums im Jahr 2017, wenn der 500. Jahrestag des Thesenanschlags von Martin Luther begangen wird, müsse sich die evangelische Kirche auch „den dunklen Schatten der Reformation“ stellen, sagte Schneider. So sei Luther Toleranz im modernen Sinne fremd gewesen. In der Reformationszeit hätten Menschen hart um die Wahrheit und damit auch gegen andere gekämpft, weil ihrer Ansicht nach ihr Seelenheil davon abhing, ob sie nach dem Tod in den Himmel oder in die Hölle kommen.
Inzwischen hätten die christlichen Kirchen eine „Lerngeschichte in Sachen Toleranz“ hinter sich, sagte Schneider. Die protestantischen Kirchen, die zuvor in „lutherische“ und „reformierte“ gespalten waren, haben 1973 offiziell eine Kirchengemeinschaft vereinbart, und auch der Dialog mit der katholischen Kirche sei seit langem freundschaftlich. Das Gespräch mit jüdischen Menschen funktioniere auf vielen Ebenen: „Wir haben gelernt, dass Antisemitismus auch christlich-theologische Wurzeln hat, und theologisch neu verstanden, dass das Judentum die Wurzel unseres christlichen Glaubens ist“, sagte Schneider. Aber auch mit dem Koordinationsrat der Muslime habe die Evangelische Kirche in Deutschland inzwischen regelmäßigen Austausch.
Keine Toleranz bei Menschenfeindlichkeit
Allerdings habe Toleranz auch Grenzen, sagte der Ratsvorsitzende. „Toleranz gegen menschenfeindliche Ideologien, gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit darf es nicht geben“, stellte er klar. „Toleranz wird unerträglich, wenn wir unbeteiligt zusehen, wie andere Menschen verunglimpft und angegriffen werden. Sie wird zum Verbrechen, wenn wir zusehen, wie andere verletzt und ermordet werden.“
In der anschließenden Podiumsdiskussion sagte Doron Kiesel, Mitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland, der Lernprozess der Kirchen habe gegenüber dem Judentum in Deutschland schon viel bewirkt, müsse aber auch die Migranten noch mehr mit einbeziehen. Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), betonte, man lerne gerade, dass es nicht um Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft gehe. Beide Seiten müssten lernen. Konkret wolle sich die EKHN noch mehr für Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen anderen Glaubens öffnen. Nicht zuletzt stärke das Zusammenarbeiten das eigene christliche Profil. Die Rektorin der Augustana-Hochschule Neuendettelsau, Gury Schneider-Ludorff, betonte, dass religiöse Toleranz nicht erst in der Moderne, sondern auch schon zur Zeiten der Reformation existiert habe.