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Aktuell

Von – 1. April 2000

Im Bilde sein

Manchmal machen wir Erfahrungen, die in Worten nur schwer auszudrücken sind. Manches verschlägt uns die Sprache, es fehlen die richtigen Begriffe oder wir finden die falschen. Aber wir können uns auch anders ausdrücken. Zum Beispiel in gemalten Bildern.

Sandra, eine junge Journalistin, nimmt in der Evangelischen Familienbildung an dem Kurs „eigen art – Ausdrucksmalen in der Gruppe“ teil. Nach einer kleinen Reise wird sie von den anderen beglückwünscht, dass sie im schönen Frühlingswetter ein paar Tage im Süden gewesen war. Sandra aber wirkt abgewandt, leicht unruhig, möchte nicht reden. Es drängt sie zu malen.

Für ihr erstes Bild wählt sie ein mittleres Format: schwarze, balkendicke Pinselstriche kreisen in rasanter Geschwindigkeit in einen finsteren Wirbel zusammen. Sofort kommen rote Striche hinzu, durchfahren das Schwarz, leuchten stellenweise aus dem kreisenden Dunkel heraus. Fertig. Sie bringt das Bild zum Trocknen in den Nebenraum. Das Nächste.

Schnell, fast mechanisch fährt Sandra fort. Als sei alles genau in ihr vorgezeichnet, nimmt sie gleich drei große Formate auf einmal und pinnt sie nebeneinander an die Malwand. „Ich brauche viel Platz!“ sagt sie und blickt kaum auf. Eine Art „Tryptichon“ entsteht. Jetzt verwendet sie Pastelltöne, nicht mehr mit einem so heftigen Duktus aufgetragen, wie im vorherigen, dunklen Bild. Ruhiger, rechts und links beinahe gleichzeitig, schwingen.

Flügel- und wolkenartige Formen mit viel Weiß auf die beiden äußeren Bildteile. Auf den mittleren Teil malt sie von oben eine riesige, leuchtend blaue Hand. Diese Hand trägt eine schemenhaft helle, menschliche Figur in ihren Fingern, die darin klein und zart aussieht. Ohne aufzublicken, wie in einem Atemzug hat Sandra hintereinander vier Bilder gemalt. Danach ist für sie der Malprozeß an diesem Abend erst einmal vorbei. Erschöpfung. Hinsetzen. Tee trinken.

Später in der Runde möchte Sandra sprechen. Sie erzählt, dass sie letzte Woche einen schweren Unfall hatte. Nachts. Dass ihr Auto sich überschlug und sie kopfüber darin liegen blieb. Daß sie ein unwahrscheinliches Glück im Unglück hatte, weil ihr sofort geholfen wurde. Während die Gruppe zuhört, betrachten alle Sandras Bilder. Im großen Tryptichon unten rechts steht der Titel ihres Werkes: „Schutzengel“. Es entsteht ein Gespräch zu ihren Bildern, dem Unfall, über die Nähe des Todes, darüber wie zerbrechlich ein Menschenleben ist, wie kostbar. Und, daß sie wirklich einen Schutzengel hatte!

Die Gruppe ist froh, daß Sandra wohlbehalten ist. Alle nehmen Anteil an ihrem Glück im Unglück und finden Worte, dies auszudrücken. Sandra selbst kann das alles noch nicht ganz fassen, noch sitzt ihr der Schrecken zu tief, scheint ihr Glück zu unfaßbar. Das Malen, sagt sie, habe ihr richtig gut getan, sie spüre Erleichterung, fühle sich ruhiger, nicht mehr so ausgeliefert. Im Bildausdruck konnte Sandra „ausmalen“, be-zeichnen und sichtbar machen, was sie bedrängte. Reden allein hat dazu nicht gereicht.

Wenn uns etwas wirklich bewegt, verstummen wir oft oder ringen um Sprache, während wir gleichzeitig doch von inneren Bildern begleitet werden. Geben wir diesen Bildern Raum zur Entfaltung, dann können sich andere Zugänge zur Welt erschließen. Was auf der Sprachebene unaussprechlich war, kann sich, in Bildern ausgedrückt, lösen – und dann wiederum klärend auf Denken, Sprache und Gefühle zurückwirken.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 1. April 2000 in der Rubrik Lebenslagen, erschienen in der Ausgabe .

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Monika Roth ist Kunst- und Gestaltungspädagogin bei der Evangelischen Familienbildung Frankfurt.