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Von – 1. September 2002

11.9.2001 – ein mythisches Datum

Der 11. September 2001 ist ein mythisches Datum geworden. Das ist angesichts des Schreckens der Ereignisse, die sich bald zum ersten Mal jähren, verständlich. Religion muss aber dafür sorgen, dass Mythen nicht zur Rechtfertigung politischen und militärischen Handelns missbraucht werden.

Dietrich Neuhaus ist Dekan des Frankfurter Dekanates Mitte-Ost. Foto: Oeser

Woran merkt man, dass der 11. September 2001 ein mythisches Datum geworden ist? Machen Sie mit sich selbst einen Test, einen Erinnerungstest: Was haben Sie am 1. Juni 2001 getan und wie sah Ihr Tagesablauf am 11. September 2001 aus? Sie werden vermutlich feststellen, dass Sie sich im ersten Fall nur sehr schwer erinnern können, was Sie getan haben, es sei denn, dieser Tag war für Sie aus persönlichen Gründen ein besonderer Tag. Im zweiten Fall, dem 11. September 2001, werden Sie Ihren Tagesablauf bis in nebensächliche Einzelheiten wie einen Film vor sich ablaufen lassen können. Dieser Tag hat sich ins Gedächtnis eingebrannt, weil eine Katastrophe von besonderer Bedeutung und Tragweite stattgefunden hat, die alle betroffen machte, auch wenn eine direkte persönliche Verwicklung in die Ereignisse nicht vorlag.

Ein weiterer Hinweis darauf, dass dieser Tag ein mythisches Datum geworden ist, zeigt sich in der Sprache der öffentlichen Rede: Man kann „nach dem 11. September“ sagen, und jeder versteht diese Redeweise auch ohne Angabe einer Jahreszahl als Mitteilung über den Beginn einer neuen Epoche. Ein mythisches Datum hat die Kraft, historische Epochen von kürzerer oder längerer Dauer zu definieren. Das kann für eine große, länder- und kulturübergreifende Anzahl sehr verschiedener Menschen nur plausibel gelingen, wenn das individuelle Erinnerungsvermögen mitspielt, was hier ganz offensichtlich der Fall ist.

Nun jährt sich „der 11. September“ zum ersten Mal. Anspannung und Nervosität machen sich in der Öffentlichkeit breit, je näher der Tag kommt. Auch das hat mit dem besonderen Charakter des Tages zu tun. Mythische Daten gehören nicht einfach der Vergangenheit an, sondern sie wiederholen sich im Jahreskreis und machen das Geschehene wieder gegenwärtig. Bei einem ersten Jahrestag weiß noch niemand zu sagen, wie diese „Wiederholung“ aussieht. Wird sie auf einer symbolischen Ebene stattfinden und in einer öffentlichen Gestaltung von Erinnerungen und Gefühlen bestehen? Oder sind verbrecherische Personen und Organisationen mit der Planung neuer Vernichtungsorgien just an diesem Tage befasst?

Kirchen als Orte der Trauer: Die Alte Nikolaikirche am Römerberg war nach den Terroranschlägen in New York ein viel besuchter Ort. Foto: Oeser

Wiederkehrende Jahrestage von negativen Gewaltereignissen dieses immer noch unvorstellbaren Ausmaßes ziehen neue zerstörerische Gewalt an wie ein Magnet. Das ist kein Aberglaube, sondern eine Erfahrungstatsache. Wer an diesem Tag eine von den wenigen nicht abgesagten Flugreisen antritt, wird triftige Gründe haben und gute Nerven brauchen. Solche Bilder wie am 11. September gab es noch nie, sie sind sehr mächtig.

Was können wir tun, um dem Bann eines solchen Datums nicht schutzlos ausgeliefert zu sein? Die Kirchen in Frankfurt veranstalten am 11. September unter dem Motto „Gewalt überwinden“ einen „Ökumenischen Gottesdienst zum Gedenken“ in der Paulskirche. Beteiligt an diesem Gottesdienst sind nicht nur viele christliche Kirchen und Gemeinden, sondern auch Vertreter von Judentum und Islam. Es ist gut, dass ein solcher Gottesdienst stattfindet, denn Religionen haben eine hohe Sachkompetenz und lange Erfahrung im Umgang mit Mythen. Sie kennen deren konstruktive und destruktive Macht. Ihre Aufgabe wird deshalb darin bestehen, eine Distanz zu emotional hoch aufgeladenen Mythen herzustellen und zu widersprechen, wenn Mythen zur Rechtfertigung politischen und militärischen Handelns benutzt werden.

Verantwortliches religiöses Handeln kann angesichts besonders lebendiger neuer Mythen nur darin bestehen, besonnen und sorgfältig Politik und Religion zu sortieren, zu entmischen und nicht zu vermischen. Dies wäre dann vielleicht ein bescheidener, aber wichtiger öffentlicher Beitrag dazu, dass nicht Mythen Menschen beherrschen, sondern die Menschen die Mythen.

Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 1. September 2002 in der Rubrik Gott & Glauben, erschienen in der Ausgabe .

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Dietrich Neuhaus ist Dekan des Frankfurter Dekanates Mitte-Ost.