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Aktuell

1. September 2008

Träume von besseren Welten

p(einleitung). Sind Träume von einer besseren Welt nur Hirngespinste oder ein wichtiger Motor für gesellschaftliche Veränderungen? Politik kann ohne Visionen nicht auskommen. Sie sollte sich aber davor hüten, Utopien für machbar zu halten.

Die politische Kultur ist ziemlich widersprüchlich, was den Umgang mit Utopien angeht. Einerseits wird immer wieder gerne ein Spruch von Altbundeskanzler Helmut Schmidt in die Debatte geworfen, dass, wer Visionen habe, doch lieber zum Arzt gehen solle. Andererseits bewundert man aber charismatische Politiker, die – wie derzeit der US-amerikanische Präsidentschaftskandidat Barack Obama – mit visionärem Zukunftsoptimismus die Herzen der Menschen erobern.

!(kasten)2008/09/seite05_oben.jpg(Wahrscheinlich die erfolgreichste Weltraum-Utopie aller Zeiten: Captain Kirk und die Crew des „Raumschiffs Enterprise“. Millionen von Fans gingen mit ihr auf die Suche nach neuen Lebensformen im Universum. | Foto: picture-alliance)!

Axel Rüdiger, Politikwissenschaftler von der Universität Halle, findet keine der beiden Varianten sinnvoll. Bei einem Studientag der Evangelischen Stadtakademie am Römerberg zum Thema „Utopien“ zeigte er auf, dass beide problematisch sind: Der Typ des „Realpolitikers“, der „zu jedem Problem erst einmal eine Statistik aus den Tiefen seiner Aktentasche zieht“, genauso wie der „Symbolpolitiker“, der über die Medien einfache Botschaften verkündet, vor allem in Wahlkampfzeiten. Beide, so Rüdiger, stehlen sich nämlich nur allzu leicht aus der Verantwortung.

Der Realpolitiker tut so, als gebe es immer nur genau eine einzige richtige Maßnahme. Diese Argumentation nach dem „TINA“-Prinzip (aus dem Englischen: „There is no alternative“, „Es gibt keine Alternative“) greife immer mehr um sich, kritisierte Rüdiger. Am Ende regieren nicht mehr politische Akteure, sondern Marktmechanismen, man verstecke sich hinter dem angeblichen Sachzwang der globalen Wirtschaft. Rüdiger sieht in dieser Haltung „eine heutige Version des alten Bürokratismus“. Wer ständig die Alternativlosigkeit der eigenen Forderungen behaupte, sei offensichtlich nicht bereit, selbst für seine Ideen einzustehen.

!(rechts)2008/09/seite05_mitte.jpg(Für viele ein neuer Hoffnungsträger in der Politik, für manche aber auch nur ein utopistischer Schaumschläger: Barack Obama vor der Siegessäule in Berlin. | Foto: picture-alliance)!

Nicht viel besser seien allerdings jene, die Politik über die Medien als Inszenierung der eigenen Persönlichkeit betreiben. Wenn Meinungsumfragen und Popularitätswerte das politische Programm bestimmen, bleibe man meist ebenfalls die Antwort schuldig, wie genau die schönen Visionen denn eigentlich umgesetzt werden sollen. Rüdiger plädierte stattdessen für einen dritten Typus, nämlich den „Programmpolitiker“, der – meistens im Hintergrund – an langfristigen Identitäten und konsistenten politischen Programmen arbeitet.

Was die Utopien betrifft, so komme es darauf an, „ihren paradoxen Charakter zu behalten“, betonte Rüdiger. Eine Utopie beschreibe immer einen Zustand, der sowohl vollkommen als auch unmöglich ist. „Von der Unmöglichkeit einer Utopie auf ihre Unsinnigkeit zu schließen ist genauso falsch, wie sie einfach umsetzen zu wollen.“ Oder anders: Die Menschen dürfen nicht aufhören, sich eine ideale Welt zu wünschen und anzustreben, in der alle glücklich, friedlich, satt und zufrieden leben. Aber sie dürfen sich niemals einbilden, genau zu wissen, wie man dorthin kommt – immer wenn das versucht wurde, endete es schlimm.

!(kasten)2008/09/seite05_unten.jpg(Studienleiter Christian Zürner – Mitte – von der Evangelischen Stadtakademie hatte zu einem Studientag über Utopien eingeladen. Vorträge hielten unter anderem die Theologin Sybille Fritsch-Oppermann – links – und der Politikwissenschaftler Axel Rüdiger – rechts. | Foto: Doris Stickler)!

Dass das Ideale nicht machbar ist, heißt jedenfalls nicht, dass man sich mit Leid und Krieg und Ausbeutung abfinden muss. Oder, um es mit Oscar Wilde zu sagen: „Eine Weltkarte, auf der Utopia nicht verzeichnet ist, ist keines Blickes wert.“

p(autor). Antje Schrupp

h3. Hoffen auf das „neue Jerusalem“

Auch Religionen haben immer gewisse utopische Anteile. Die Bibel zum Beispiel wird von zwei „utopischen“ Büchern geradezu eingerahmt: der Erzählung vom Paradies ganz am Anfang und der Offenbarung des Johannes ganz am Ende.

Während die Schöpfungsgeschichte eine relativ klare Botschaft hat – sie will nämlich begreifbar machen, dass die Welt, in der wir leben, keine ideale Welt, kein „Paradies“ ist – ist die Apokalypse, das letzte Buch der Bibel, für viele Interpretationen offen.

Die Theologin Sybille Fritsch-Oppermann versuchte beim Studientag in der Stadtakademie, den Sinn dieser teilweise drastischen „apokalyptischen“ Bilder zu entschlüsseln. Die „Hure Babylon“ etwa, die es mit allen Königen treibt und auf einem „scharlachfarbenen Tier“ mit sieben Köpfen reitet, ist ein Bild für das römische Reich. Der Text ist vermutlich im Jahr 95 nach Christus geschrieben worden, unter der Herrschaft des Kaisers Domitian, der die Christen und Christinnen verfolgte. Der Autor war nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer auf die Insel Patmos geflüchtet.

In der Apokalypse setzt er dem imperialistischen Rom als „Reich des Bösen“ das „neue Jerusalem“ entgegen – eine Welt ohne Tod, Krankheit und Leid. Bevor diese Utopie aber Wirklichkeit wird, gibt es das „Tausendjährige Reich“ mit der Wiederkunft Christi und der Herrschaft der Gerechten und danach einen letzten großen Kampf gegen Satan, die Schlacht bei Armageddon. Fritsch-Oppermann interpretierte diese drastischen Szenen als „metaphorisch gesteigerte Bilder der Umkehr“.

p(autor). Antje Schrupp

h3. Was ist eigentlich eine Utopie?

* Das Wort „Utopie“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Nicht-Ort“ (U-Topos). Es bezeichnet Idealvorstellungen, die zwar denkbar und theoretisch möglich sind, aber aufgrund der Umstände derzeit nicht realisierbar. In diesem Sinn haben Utopien oft einen kritischen Charakter, denn sie halten der jeweiligen Gesellschaft einen Spiegel vor.
* In dieser Bedeutung zum ersten Mal verwendet hat den Begriff der englische Staatsmann Thomas Morus in seinem 1516 erschienenen Roman „Utopia“. Darin schildert er die Geschichte eines Seemannes, der lange bei den „Utopiern“ gelebt hat, einer fiktiven humanen und demokratischen Gesellschaft. Das Buch begründete eine eigene Literaturgattung, den „utopischen Roman“. Da im 16. Jahrhundert noch nicht alle Gegenden der Erdkugel erforscht waren, siedelte Morus sein „Utopia“ auf einem unbekannten Kontinent an.
Heutige Utopien weichen oft in den Weltraum aus, zum Beispiel zahlreiche Science-Fiction-Filme oder Romane.
* Nachdem das optimistische und fortschrittsgläubige 19. Jahrhundert sehr viele Utopien hervorgebracht hatte, trat im 20. Jahrhundert zunehmend eine andere, negative Variante auf, die „Dys­ topie“: eine Beschreibung von schlimmen und beängstigenden Zuständen, die als abschreckendes Beispiel dienen sollen. Der wohl bekannteste dieser negativ-utopischen Romane ist „1984“ von George Orwell. Aber auch viele Katastrophenfilme, etwa über die Zeit nach einem Atomkrieg, zählen zu diesem Genre.
* Ein utopischer „Nicht-Ort“ muss nicht räumlich, er kann auch zeitlich bestimmt sein: Zum Beispiel als idealer Urzustand, den es früher einmal gegeben hat – in diesem Sinne ist die biblische Paradiesgeschichte eine Utopie. Andere siedeln den idealen Zustand in der Zukunft an, wie etwa der vor allem im Mittelalter verbreitete Glaube an das „tausendjährige Reich“ (siehe auch nebenstehende Box). Dabei wird die Wiederkunft Jesu Christi für einen Zeitpunkt in der Zukunft erwartet, wie heute noch von den Zeugen Jehovas.
* Die meisten Christen und Christinnen glauben, dass das „Reich Gottes“ keine reine Utopie ist, sondern bereits angebrochen. Demnach kommt Christus nicht erst in einer fernen Zukunft auf die Erde zurück, sondern ist längst da. Schließlich zitiert das Matthäus-Evangelium Jesus mit den Worten: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter euch.“

p(autor). Antje Schrupp

Artikelinformationen

Beitrag veröffentlicht am 1. September 2008 in der Rubrik Ethik, erschienen in der Ausgabe .

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