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Aktuell

1. Oktober 2009

Zivilcourage bleibt wichtig

p(einleitung). Vor zwanzig Jahren läutete die Öffnung der Berliner Mauer das Ende der DDR ein. Christa Sengespeick-Roos war damals Pfarrerin in Ostberlin. Aus Anlass des Jubiläums ging sie dort noch einmal auf Spurensuche.

!(rechts)2009/10/seite07_rechts.jpg(Christa Sengespeick-Roos ist Pfarrerin der Andreasgemeinde in Eschersheim. | Foto: Ilona Surrey)!

„Was sind zwanzig Jahre?“ frage ich mich angesichts der Veranstaltungen zum 20. Jahrestag des Mauerfalls. Manches aus den achtziger Jahren steht mir vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Meine Gedanken gehen zurück zu meiner Kindheit in den fünfziger Jahren. Ich sehe meinen Vater tief traumatisiert am Küchentisch sitzen: Es waren nur sechs Jahre zwischen seiner Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft und meiner Geburt! Und ich lebte so lange in dem Gefühl, als Nachgeborene mit dem Dritten Reich nichts zu tun zu haben. Aber diese sechs Jahre seit seiner Heimkehr – das ist keine Zeit! Wir sind geprägt durch unsere Eltern und Großeltern. Trotz aller Veränderungen leben wir noch immer in derselben Epoche.

In diesem Sommer verbrachte ich einen Studienurlaub in Berlin, weil ich mich noch einmal erinnern wollte. Ich wollte Wege nachgehen, Menschen wieder treffen, nach zwanzig Jahren die Veränderungen wahrnehmen, besser verstehen, was mich prägte, was ich mitnehme und was ich zurücklassen will – mit dem Bewusstsein: Ich lebe noch immer in derselben Epoche!

So ließ ich mich ein auf eine Zeit in „meinem“ Berlin, Berlin-Mitte. Von 1982 bis1989 war ich Pfarrerin im Ostberliner Friedrichshain. Dort habe ich auch mit der politischen Opposition zusammengearbeitet. Mit den „Frauen für den Frieden“ veranstaltete ich Politische Nachtgebete. Ich finde es irritierend, dass diese Geschichte in Frankfurt fast gar keine Rolle spielt. Ich finde es irritierend, wenn Menschen heute meinen, sie hätten damit nichts zu tun – so wie ich lange meinte, mit dem Dritten Reich nichts zu tun zu haben, nur weil ich diese Zeit nicht selbst erlebt habe.

!(kasten)2009/10/seite07_unten.jpg(Zukunftswerkstatt in der Ost-Berliner Erlöserkirche zum Thema „Wie nun weiter, DDR?“ einen Monat vor dem Mauerfall. Die evangelische Kirche spielte eine wichtige Rolle bei der „Wende“. | Foto: epd-Bild / Bernd Bohm)!

Auch heute, nach zwanzig Jahren, kann ich nur schwer über meine DDR-Geschichte schreiben mit all den Menschen, Begegnungen und Episoden. In Berlin habe ich gemerkt, wie sehr sie mir noch immer unter die Haut geht. Die Menschen, die diese Geschichte erlebt haben mit den alten Verletzungen, sie leben noch. Es ist auch nicht wirklich erhellend, Einsicht in die Staatssicherheitsakten zu nehmen. Ich kann mich in der Beurteilung von Menschen und Situationen bis heute irren. Was ich beschreiben kann, ist nur die Spitze eines Eisberges.

Die Große Hamburger, die Krausnickstraße und die dahinter liegende Auguststraße in Berlin sind irgendwie geschützt vor dem Massentourismus. Wer hierher kommt, will die alte Geschichte wahrnehmen. Menschen bleiben ehrfürchtig vor den vielen Stolpersteinen stehen, die an ermordete Menschen in der Nazizeit erinnern, auch vor dem alten jüdischen Friedhof, wo die Massendeportationen begannen, und an der jüdischen Knabenschule. Zur DDR-Zeit war sie eine Berufsschule. Schülerinnen spielten damals auf dem jüdischen Friedhof Fußball. Ich glaube nicht, dass sie wussten, was dieser Ort bedeutete und welche Verletzungen sie hier durch ihr Fußballspiel hervorriefen. So etwas geschieht durch Unwissenheit, Ignoranz.

In der Großen Hamburger Straße an der Sophienkirche hatte ich damals meine erste Pfarrwohnung. Es ist das einzige Haus in der Straße, an dem die Einschussstellen aus dem Zweiten Weltkrieg noch nicht verputzt sind. Hier haben wir einen Baum gepflanzt. Das war verboten. Aber er ist gut gewachsen und bietet heute Schatten.

Warum schreibe ich diese beiden Sätze? Es klingt banal. Aber wir haben ganz andere Sachen getan, die „verboten“ waren. Der Baum vor dem Haus in der Großen Hamburger ist für mich ein Sinnbild: „Er ist gut gewachsen und bietet heute Schatten.“ Das kann ich mitnehmen.

Kritisch bleiben, Zivilcourage zeigen – das ist heute so nötig wie in vergangenen Zeiten. Verboten und Anordnungen gegenüber bleibe ich kritisch. Auch heute brauche ich den Maßstab in mir selbst, dafür, was Leben bringt und was Leben nimmt.

p(autor). Christa Sengespeick-Roos

Artikelinformationen

Beitrag veröffentlicht am 1. Oktober 2009 in der Rubrik Gott & Glauben, erschienen in der Ausgabe .

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