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Von – 26. September 2012

„Die Kirchen haben nicht mehr das Monopol auf Religiosität“

Was bedeutet die multireligiöse Gesellschaft für die großen christlichen Kirchen? Ein Gespräch mit Gabriele Scherle und Joachim Valentin. Teil 3: Religiöse Vielfalt betrifft längst nicht nur Migrantinnen und Migranten.

Gabriele Scherle, Pröpstin für Rhein-Main, und Joachim Valentin, Leiter des Hauses am Dom, im Gespräch mit „Evangelisches Frankfurt“. Foto: Rolf Oeser

Das Thema religiöse Vielfalt wird oft immer noch in der Rubrik „Einwanderung“ abgelegt, aber auch unter Deutschen gibt es ja inzwischen vielfältige religiöse Zugehörigkeiten.

Valentin: Ich halte es eigentlich nur für eine Übergangslösung, dass der Frankfurter Rat der Religionen im Integrationsdezernat angesiedelt ist. Das ist für die vielen deutschstämmigen Muslime eigentlich ein Affront, aber auch für die Juden und für andere, die lange hier leben. Und letztlich auch für die Kirchen, denn wir sind ja auch Mitglied im Rat der Religionen. Es gibt Angebote von Seiten des Kirchendezernenten, der einmal im Gespräch mit uns gesagt hat, er empfinde sich eigentlich als Religionsdezernent. Das war ein wichtiges Signal, denn in vielen Frankfurter Dezernaten, sei es im Schulamt, im Jugendamt oder im Sozialamt, hört man immer wieder den Satz: „Wir sind für alle Religionen da, deshalb spielt für uns Religion keine Rolle.“ Aber das ist falsch. Eine der Hauptintentionen des Rates der Religionen ist es, in die Köpfe zu kriegen, dass religiöses Leben in den verschiedenen Dimensionen der Gesellschaft eine Rolle spielt und nicht irrelevant ist.

Die Gesellschaft als multireligiös zu verstehen, fordert gerade den großen Kirchen Toleranz ab. Müssen sie den Vertretungsanspruch für das Religiöse abgeben?

Scherle: Ich glaube, wir sind immer noch dabei, zu lernen, was es bedeutet, in einer interreligiösen Situation zu sein. Ich empfinde es als eine große Herausforderung herauszufinden, wer wir angesichts der anderen sind. Das ist für mich auch eine seelsorglich bedeutsame Frage. Denn es wäre ein Irrtum zu meinen, es gebe eine heile Identität, indem ich von den Anderen absehe und mich auf einen vermeintlich reinen Glauben versteife. Mir macht ein bisschen Sorge, dass ich einerseits eine Tendenz zur Beliebigkeit wahrnehme – nach dem Motto: Alle glauben ja doch irgendwie dasselbe – und auf der auf der anderen Seite eine Tendenz, die Schotten hochzuziehen und in Richtung Fundamentalismus zu gehen. Unsere Aufgabe ist es, diesem Angriff auf die Herzen und Hirne etwas entgegenzusetzen. Dazu gehört dann auch zuzugeben, dass es wirklich schwer ist, sich auf Menschen, die ganz anders glauben und leben, einzulassen. Ich sage immer, dass wir das als geistliche Aufgabe wahrnehmen müssen: Der liebe Gott hat uns diese Situation aufgegeben. Dass wir als Kirchen nicht mehr das Monopol auf Religiosität haben, ist kein Versagen, und es ist auch kein Niedergang, sondern das ist uns jetzt einfach vor die Füße gelegt. Und deshalb müssen wir es auch bewältigen. Dabei brauchen wir als Christinnen und Christen gute Antworten aus dem Glauben, die uns tragen.

Valentin: Umgekehrt nehme ich hier in Frankfurt aber gar nicht wahr, dass die Kirchen weniger Aufmerksamkeit hätten. Auch weil es eine verstärkte Aufmerksamkeit für das Phänomen Religion insgesamt gibt. Ganz strategisch gedacht nutzt das den Kirchen letztlich auch. Ich merke das im Haus am Dom: Über die klassischen theologischen Themen erreichen wir die Menschen nicht mehr unbedingt. Zu einen dreitägigen Akademietagung über die Erlösung durch Jesus Christus käme kaum jemand. Aber wenn ich das als Dialog anlege und Themen wähle wie „Der Offenbarungsbegriff im Islam und im Christentum“ oder „Endzeitvisionen im Buddhismus und im Christentum“ ist das Haus voll. Dabei werden dann genauso prägnant wie früher auch die christlichen Positionen vorgetragen und durchdacht. Das Publikum denkt selber schon interreligiös. Da sind unsere traditionellen Gemeindechristen manchmal ein bisschen langsamer. Für mich als Veranstalter ist diese Schnittstelle zur multireligiösen Situation die spannendere.

Scherle: Viele Menschen kommen durch ihr Interesse daran, wie etwas eigentlich im Buddhismus oder im Islam gesehen wird, auch dazu, zu fragen, wie es denn bei ihnen selbst, im Christentum, ist. Deshalb sollten theologische Bildungsangebote, die den christlichen Glauben neu erschließen wollen, nicht auf die interreligiöse Dimension verzichten.

Viele Christinnen und Christen haben aber vielleicht gar nicht richtig verstanden, woran sie glauben, und treffen dann auf Angehörige anderer Religionen, die sehr genau wissen, was sie glauben.

Scherle: Das liegt natürlich auch daran, dass wir bisher in einer eindeutig christlich geprägten Gesellschaft gelebt haben. Wir sind jetzt in einer Situation, wo es für Christinnen und Christen wichtig ist, dass sie über ihren Glauben auskunftsfähig sind. Denn sie erleben in ihrem sozialen Umfeld, dass sie – nicht so sehr durch anders Religiöse, sondern mehr noch durch Konfessionslose – kritisch angefragt werden. Dadurch sind unsere Pfarrerinnen und Pfarrer in Sachen theologischer Bildungsarbeit herausgefordert. Denn die protestantische Überzeugung, dass jeder und jede im eigenen sozialen Umfeld den Glauben bezeugen kann, erfordert heute auch eine größere Auskunftsfähigkeit.

Valentin: Das gilt, nebenbei, auch für Katholiken. Aber auch bei uns gibt es dieses Sich Zurücklehnen, eine gewisse Konsummentalität, also dass man davon ausgeht, die Amtskirche wird es schon machen. Was die einzelnen Christinnen und Christen selber glauben und bekennen bleibt im Ungefähren.

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Artikelinformationen

Beitrag von , veröffentlicht am 26. September 2012 in der Rubrik Gott & Glauben, Menschen, erschienen in der Ausgabe .

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Dr. Antje Schrupp ist geschäftsführende Redakteurin von Evangelisches Frankfurt. Die Journalistin und Politikwissenschaftlerin bloggt auch unter www.antjeschrupp.com.